Die Blechtrommel
bewahrend, tausendmal zersprang, gab dann dem Schrei etwas mehr Profil und eine geradezu verschwenderische Dringlichkeit, besuchte mit diesem so reich ausgerüsteten Ton ein Reagenzglas nach dem anderen.
Die Gläser sprangen knallend. Der grünliche, teilweise eingedickte Alkohol spritzte, floß, seine präparierten, blassen, etwas vergrämt dreinschauenden Einschlüsse mit sich führend über den roten Linoleumboden der Praxis und füllte mit, möchte sagen, greifbarem Geruch den Raum dergestalt, daß Mama übel wurde und Schwester Inge die Fenster zum Brunshöferweg hin öffnen mußte. Dr. Hollatz verstand es, den Verlust seiner Sammlung in einen Erfolg umzubiegen. Wenige Wochen nach meinem Attentat erschien von seiner Hand in der Fachzeitschrift »Arzt und Welt« ein Aufsatz über mich, das glaszersingende Stimmphänomen Oskar M. Die dort auf über zwanzig Seiten vertretene These des Dr. Hollatz soll in Fachkreisen des In- und Auslandes Aufsehen erregt, Widerspruch, aber auch Zuspruch aus berufenem Munde gefunden haben. Mama, der mehrere Exemplare der Zeitschrift zugeschickt wurden, war auf eine mich nachdenklich stimmende Art über den Aufsatz stolz und konnte es nicht lassen, den Greffs, Schefflers, ihrem Jan und immer wieder nach Tisch ihrem Gatten Matzerath daraus vorzulesen. Selbst die Kunden des Kolonialwarengeschäftes mußten sich Lesungen aus dem Artikel gefallen lassen und bewunderten auch Mama, die die Fachausdrücke zwar falsch, aber phantasievoll betonte, nach Gebühr. Mir selbst sagte die Tatsache, daß da mein Vorname zum erstenmal in einer Zeitung Platz fand, so viel wie gar nichts. Meine schon damals hellwache Skepsis ließ mich das Werkchen des Dr. Hollatz als das werten, was es, genau besehen, darstellte: als das seitenlange, nicht ungeschickt formulierte Vorbeireden eines Arztes, der auf einen Lehrstuhl spekulierte.
Heute, in seiner Heil-und Pflegeanstalt, da seine Stimme nicht mal sein Zahnputzglas zu rühren vermag, da ähnliche Ärzte wie jener Hollatz bei ihm ein und aus gehen, sogenannte Rorschachversuche, Assoziationsversuche und sonstige Tests mit ihm anstellen, damit seine Zwangseinweisung endlich einen klingenden Vornamen bekommt, heute denkt Oskar gerne an die archaische Frühzeit seiner Stimme zurück. Wenn er in jener ersten Periode nur notfalls, dann allerdings gründlich Quarzsandprodukte zersang, machte er später, während der Blüte-und Verfallszeit seiner Kunst, Gebrauch von seinen Fähigkeiten, ohne äußeren Zwang zu verspüren. Aus bloßem Spieltrieb, dem Manierismus einer Spätepoche verfallend, dem l'art pour l'art ergeben, sang Oskar sich dem Glas ins Gefüge und wurde älter dabei.
DER STUNDENPLAN
Klepp schlägt zeitweise Stunden mit dem Entwerfen von Stundenplänen tot. Daß er während des Entwerfens ständig Blutwurst und angewärmte Linsen in sich hineinschlingt, bestätigt meine These, die schlankweg behauptet: Träumer sind Fresser. Daß Klepp beim Ausfüllen der Rubriken nicht ohne Fleiß ist, gibt meiner anderen These recht: Nur wahre Faulpelze können arbeitsparende Erfindungen machen.
Auch in diesem Jahr gab sich Klepp über vierzehn Tage lang Mühe, seinen Tag in Stunden zu planen.
Als er mich gestern besuchte, tat er erst längere Zeit geheimnisvoll, fischte dann das neunmal gefaltete Papier aus der Brusttasche, reichte es mir strahlend, schon selbstgefällig; er hatte wieder einmal eine arbeitsparende Erfindung gemacht.
Ich überflog den Zettel, viel Neues brachte er nicht: Um zehn Frühstück, bis zum Mittagessen Nachdenken, nach dem Essen ein Stündchen Schlaf, dann Kaffee — wenn möglich ans Bett, im Bett sitzend eine Stunde Flöte, aufstehend und umhermarschierend eine Stunde Dudelsack im Zimmer, eine halbe Stunde Dudelsack im Freien auf dem Hof, jeden zweiten Tag wechselnd, entweder zwei Stunden Bier und Blutwurst oder zwei Stunden Kino, in jedem Fall aber vor dem Kino oder beim Bier unauffälliges Werben für die illegale KPD — halbe Stunde — nicht übertreiben! Die Abende füllte an drei Wochentagen Tanzmusik-Machen im »Einhorn« aus, am Sonnabend wurde das Nachmittagsbier mit KPD-Werbung auf den Abend verlegt, weil der Nachmittag für das Bad mit Massage in der Grünstraße reserviert war; und danach ins »U 9«, ein Dreiviertelstündchen lang Hygiene mit Mädchen, dann mit demselben Mädchen und Freundin des Mädchens bei Schwab Kaffee und Kuchen, noch kurz vor Geschäftsschluß Rasieren, wenn nötig Haareschneiden, schnell Foto
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