Die Blechtrommel
Reisejahres lernte ich flüchtig, zwischen Tournee und Tournee, einige Bekannte und Verwandte des Herrn Matzerath kennen. So stellte er mir seine Stiefmutter Frau Maria Matzerath vor, die der Angeklagte sehr, doch zurückhaltend, verehrt. An jenem Nachmittag begrüßte mich auch der Halbbruder des Angeklagten, Kurt Matzerath, ein elfjähriger guterzogener Gymnasiast. Gleichfalls machte die Schwester der Frau Maria Matzerath, Frau Auguste Köster, auf mich einen vorteilhaften Eindruck. Wie mir der Angeklagte gestand, waren seine Familienverhältnisse während der ersten Nachkriegsjahre mehr als gestört. Erst als Herr Matzerath seiner Stiefmutter ein großes Feinkostgeschäft, das auch Südfrüchte führt, einrichtete, auch immer wieder mit seinen Mitteln nachhalf, wenn dem Geschäft Schwierigkeiten drohten, kam es zu jenem freundschaftlichen Bund zwischen Stiefmutter und Stiefsohn.
Auch machte mich Herr Matzerath mit einigen ehemaligen Kollegen, vorwiegend Jazzmusikern bekannt. So heiter und umgänglich mir der Herr Münzer, den der Angeklagte vertraulich Klepp nennt, vorkommen wollte, hatte ich bis heute nicht Mut und Willen genug, diese Kontakte weiter zu pflegen.
Wenn ich es dank der Großzügigkeit des Angeklagten auch nicht nötig hatte, weiterhin den Beruf des Dekorateurs auszuüben, übernahm ich dennoch, aus Freude am Beruf, sobald wir nach einer Tournee wieder im Lande waren, die Dekoration einiger Schaufenster. Auch der Angeklagte interessierte sich freundlich für mein Handwerk, stand oftmals zu später Nachtstunde auf der Straße und wurde nicht müde, meinen bescheidenen Künsten den Zuschauer zu liefern. Gelegentlich machten wir nach getaner Arbeit noch einen kleinen Bummel durchs nächtliche Düsseldorf, mieden aber die Altstadt, da der Angeklagte keine Butzenscheiben und altdeutschen Wirtschaftsschilder sehen mag. So führte uns — und ich komme jetzt zum letzten Teil meiner Aussage — ein Spaziergang nach Mitternacht durchs nächtliche Unterrath vor das Straßenbahndepot.
Wir standen einträchtig und sahen den letzten planmäßig einlaufenden Straßenbahnwagen zu. Hübsch ist solch ein Schauspiel. Rings die dunkle Stadt. Fern grölt, weil Freitag ist, ein betrunkener Bauarbeiter. Sonst Stille, denn die letzten einlaufenden Straßenbahnen machen, selbst wenn sie klingeln und gekurvte Schienen sprechen lassen, keinen Lärm. Die meisten Wagen fuhren sogleich ins Depot ein. Einige Wagen jedoch standen kreuz und quer, leer, aber festlich beleuchtet auf den Gleisen.
Wessen Idee war es? Es war unsere Idee, aber ich sagte: »Nun, lieber Freund, wie wäre es?« Herr Matzerath nickte, wir stiegen ohne Hast ein, ich stellte mich an den Führerstand, fand mich sofort zurecht, fuhr weich, schnell Geschwindigkeit gewinnend, an, zeigte mich als ein guter Straßenbahnführer, was mir Herr Matzerath — wir hatten die Helligkeit des Depots schon hinter uns — freundlich mit diesem Sätzchen quittierte: »Gewiß bist du ein getaufter Katholik, Gottfried, sonst könntest du nicht so gut Straßenbahn fahren.«
In der Tat machte mir die kleine Gelegenheitsarbeit viel Freude. Man schien am Depot unsere Abfahrt nicht bemerkt zu haben; denn niemand verfolgte uns, auch hätte man durch das Abschalten des Leitungsstromes unser Gefährt mühelos stoppen können. Ich führte den Wagen in Richtung Flingern, durch Flingern hindurch, überlegte, ob ich bei Haniel links einbiegen, nach Rath, Ratingen hinauffahren sollte, da bat mich Herr Matzerath, die Strecke Grafenberg, Gerresheim einzuschlagen.
Obgleich ich die Steigung unterhalb der Tanzgaststätte Löwenburg fürchtete, kam ich dem Wunsch des Angeklagten nach, schaffte die Steigung, hatte die Tanzgaststätte schon hinter mir, da mußte ich den Wagen bremsen, weil drei Männer auf den Schienen standen und ein Halt mehr erzwangen denn erbaten.
Herr Matzerath hatte schon kurz hinter Haniel das Innere des Wagens aufgesucht, um eine Zigarette zu rauchen. So mußte ich als Straßenbahnführer »Einsteigen bitte!« rufen. Es fiel mir auf, daß der dritte, hutlose Mann, den die beiden anderen, die grüne Hüte mit schwarzen Hutbändern trugen, in der Mitte hatten, beim Einsteigen ungeschickt oder sehbehindert mehrmals das Trittbrett verfehlte. Recht brutal halfen ihm seine Begleiter oder Wächter in meinen Führerstand und gleich darauf in den Wagen.
Ich fuhr schon wieder, da hörte ich von hinten her, aus dem Wageninneren zuerst ein klägliches Wimmern, auch ein Geräusch,
Weitere Kostenlose Bücher