Die Blendende Klinge
alle nieder, deren er habhaft werden konnte. Es hieß, dass er kämpfte wie ein Gott, als hätte Anat von ihm Besitz ergriffen. Er mordete bis zum Morgengrauen. Dann versammelten sich die Bewohner von Aghbalu um ihn, und sie trieben den gesamten Stamm der Tiru zusammen, die alten Männer und die jungen, die Händler, die Frauen und die Hirten … und …« Er schluckte. »Und Hanishu hat sie alle abgeschlachtet. Eigenhändig. Der Stamm der Tiru bestand aus zweitausend Familien. Heute gibt es keine Tiru mehr.« Er reichte Kip die Karte. »Überlege es dir gut, welche Erinnerungen du dir ansehen willst, Kip. Es kann sein, dass du sie niemals wieder loswirst.«
Kip wusste, dass er lieber schweigen sollte, aber er konnte einfach nicht anders. »Was, wenn die Wahrheit in dieser Karte sich von dem unterscheidet, was Euch erzählt wurde?«
Der hünenhafte Hauptmann sah Kip mit traurigen Augen an. »Ich glaube nicht, dass es etwas ändern würde. Ich habe die meisten Menschen verloren, die mir etwas bedeuteten, und ich habe auch meinen Bruder verloren. Den Hanishu von einst gibt es nicht mehr. Seit seiner Tat ist er ein gebrochener Mann. Er ist noch immer ein einzigartiger Krieger, aber er vertraut sich selbst nicht mehr. Er ist kein Führer mehr. Er ist nicht einmal Wachhauptmann. Kann den Druck der Verantwortung nicht aushalten. Jedes Mal, wenn ich wieder mit ihm in einen Kampf ziehe, kann ich danach wochenlang nichts mit ihm anfangen.« Er fuhr über seinen kahlgeschorenen Schädel. »Warum erzähle ich das alles? Ich werde wohl allzu offenherzig. Das ist es also, warum du mit mir sprechen wolltest?«
»Könnt Ihr schwören, es niemand anderem zu verraten?«, fragte Kip.
»Das kannst du nicht von mir verlangen, Kip. Ich muss tun, was ich für richtig halte.«
»Ich frage nur«, sagte Kip. »Wenn Ihr es nicht versprecht, kann ich Euch nicht alles erzählen.«
Hauptmann Eisenfaust atmete tief durch. »Du bist genauso schlimm wie die anderen Guiles, weißt du das?«
»Ja, Herr. Es tut mir leid, Herr.«
Hauptmann Eisenfaust starrte für einige Zeit auf den Boden. »Ich verstehe nicht, warum wir euch das alles mit uns machen lassen. Selbst ein Kind der Guiles treibt mich vor sich her wie ein Blatt im Wind.« Er schüttelte den Kopf, und ein Ausdruck von Bitterkeit lag in seinen traurigen Augen. »Also gut, du hast mein Wort.«
»Janus Borig hat die Karten angefertigt. Ich war drüben bei ihrem Haus …«
»Janus Borig? Sie ist ein Mythos, Kip. Die alte Hexe aus dem Windpalast?«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, erwiderte Kip. »Sie ist nur eine alte Dame mit einer kleinen Werkstatt.«
»Einer Werkstatt?«
»Auf Großjasper.« Kip sah ihn verwirrt an.
»Du hast also einen Wahren Spiegel gefunden, mitten in der Stadt, vor aller Augen sichtbar und doch verborgen. Du bist erst seit zwei Monaten in dieser Stadt. Wie konntest du sie aufspüren?«
»Die Bibliothekarin hat mir gesagt …«
»Welche Bibliothekarin?«
»Rea. Rea Siluz.«
»Hmm. Ich werde dem nachgehen. Aber lassen wir das im Moment beiseite. Erzähl.«
»Ich bin heute Abend zu Janus Borig gegangen. Sie ist ermordet worden. Von einem Mann und einer Frau, die diese Umhänge trugen. Schimmermäntel. Machten sie fast völlig unsichtbar, außer im Bereich von Infrarot und Ultraviolett.«
Einen Moment lang verzog Eisenfaust das Gesicht, als sei Kip ein kleiner Junge, der ihm die haarsträubendsten Lügen auftischte. Dann sah er die Umhänge.
»Zeig mir eine dieser Karten.«
»Welche wollt Ihr …«
»Spielt keine Rolle.«
Kip zog aufs Geratewohl eine Karte heraus, und Eisenfaust wandelte einen kleinen Splitter Blau, berührte die Karte für einen kurzen Moment und zog dann seinen Finger zurück.
»Noch eine«, sagte er.
Kip fächerte die Karten aus, wobei er eine herausragen ließ, aber Eisenfaust wählte eine andere. Er wandelte, berührte sie und riss seinen Finger zurück, als hätte er sich verbrannt.
»Entschuldigung, aber ich musste mich selbst vergewissern. Sie sind wirklich und echt. Erzähl mir alles, Kip.«
Kip gehorchte. Es war, als würde ihm eine gewaltige Last von den Schultern genommen. Mit einem Schlag fühlte er sich wieder wie ein Kind – nur dass es ein angenehmes Gefühl war. Es gab Dinge auf der Welt, die zu groß für ihn waren, um allein damit fertigzuwerden, und Eisenfaust zu vertrauen war eine große Erleichterung. »Also, was bedeutet das alles?«, fragte Kip.
»Ich dachte, ein Krieg sei im Anzug, aber ich
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