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Die Blendende Klinge

Die Blendende Klinge

Titel: Die Blendende Klinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brent Weeks
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keine Entschuldigung.
    Die Weiße legte ihre Fingerspitzen aneinander. Wartete. Lange.
    Klytos Blau konnte die Spannung nicht ertragen. »Ich … ich würde mich freuen, wenn ich …«
    »Fühlt Ihr Euch unwohl, Andross? Zu schwach für ein Gebet?«, fragte die Weiße.
    Gavin sah, worauf das abzielte. Indem sie ihm Schwäche unterstellte, wollte sie andeuten, dass er nicht mehr tauglich war, Teil des Spektrums zu bleiben. Für die Weiße, die ein subtiles Vorgehen vorzog, war das ungewöhnlich unverblümt. Aber auch sie konnte Grobheiten nicht leiden.
    Andross neigte den Kopf zur Seite, als räume er seinem Gegner einen Punktgewinn ein. »Keineswegs«, krächzte er. »Meine Stimme hat alle Schönheit verloren. Die Verwüstungen der vielen Jahre in Orholams Diensten. Ich dachte, der liebliche Klang von Tisis Grüns Stimme könnte für uns alle erhebender sein.«
    »Orholam beurteilt die Herzen der Menschen, nicht ihre Stimmen«, entgegnete die Weiße. »Er hört jedes Gebet, das in Demut an ihn gerichtet wird.«
    Also kann sich mein Vater seine Worte am besten gleich sparen.
    Gavin ließ sich seine Erheiterung anmerken. Sein Vater, dessen Augen hinter seinen geschwärzten Brillengläsern wie hinter verschlossenen Fensterläden lagen, stellte sich blind, in jeder Bedeutung des Wortes. Willst du es mit dem ganzen Spektrum aufnehmen, ohne das Mienenspiel auch nur eines der anderen studieren zu können? Vergiss es.
    Vielleicht war das Beeinträchtigung genug, um Gavin in die Hände zu spielen.
    Aber die Worte seines Vaters weckten auch Gavins Zweifel. Welchen Grund gab es für Andross, die Aufmerksamkeit auf die neue Grüne zu lenken? Natürlich, sie war jung und schön und hatte in der Tat eine hübsche Stimme; alles Dinge, die Andross mochte, wie Gavin wusste. Aber indem er auf sie verwies, erweckte Andross den Eindruck, dass Tisis ganz auf seiner Seite war.
    Gavin hatte das ohnehin angenommen. Aber warum hatte Andross es nötig, alle darauf hinzuweisen, außer dann, wenn sie es vielleicht doch nicht war? Oder jedenfalls nicht völlig.
    Die Anspannung um Tisis’ Augen, über ihrem falschen Lächeln, verriet Gavin, dass es sein Vater darauf anlegte. Grüne hassten es, an die Leine gelegt und kontrolliert zu werden. Vorsicht, Vater. Ich könnte dir diese Kostbarkeit womöglich doch noch aus den Fingern winden. Trotz allem.
    Gavin entspannte seine Augen, so dass er Infrarot sehen konnte, und ließ seinen Blick nacheinander über jedes einzelne Mitglied des Spektrums wandern. Dabei gab er sich alle Mühe, unauffällig zu sein. Im infraroten Bereich waren die feinen Nuancen im Gesichtsausdruck eines Menschen nicht zu sehen: Dieser Teil des Lichtspektrums war zu unscharf für solche Details. Was er sehen konnte, war die Hauttemperatur jedes Einzelnen. Natürlich variierte sie von Frau zu Frau und Mann zu Mann, in Abhängigkeit von der natürlichen Körpertemperatur und der unterschiedlichen Distanz der Blutgefäße zur Hautoberfläche. Doch wenn man für jede Person eine Art Vergleichswert ermitteln und im Kopf behalten konnte – und genau das hatte Gavin im Laufe der Jahre für jeden im Raum außer Tisis sehr sorgfältig getan –, dann konnte man daran erkennen, wenn jemand unter ungewöhnlichem Stress stand. Auch wenn die anderen offensichtlichere Anzeichen wie Schlucken, Hin-und-her-Rutschen oder zusammengebissene Zähne kontrollieren konnten – wenn ihr Herz schneller klopfte, glühten sie auch im Infrarotbereich heller.
    Natürlich konnte ein Mensch aus Dutzenden verschiedenen Gründen nervös sein, und seine Temperatur konnte von allen möglichen anderen Faktoren beeinflusst werden – von einem zu sich genommenen Glas Wein bis zum Tragen dicker Kleidung –, dennoch erhielt Gavin so immer wieder Hinweise, die auf andere Weise nicht zu erhalten waren. In dieser Gruppe musste er jeden erdenklichen Vorteil nutzen.
    Andross Guile betete. »Vater des Lichts, in Demut bitten wir Dich, unser Flehen zu erhören.« Gavin wusste, dass Andross das Beten verachtete. Natürlich konnte er tun, was von ihm verlangt wurde. Er kannte alle Rituale in- und auswendig, und vor dem gemeinen Volk konnte er sich den Anschein wahrer Aufrichtigkeit geben. Hier, unter Leuten, die er fast für Ebenbürtige halten musste, hatte er größere Schwierigkeiten, seine Verachtung zu verbergen. Für ihn war die gesamte Religion ein Schwindel – aber ein Schwindel, auf dem all ihre Macht beruhte. Daher bemühte er die falschen Archaismen, die

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