Die Blendende Klinge
waren, mussten sie daraus ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen. Frauen waren im Allgemeinen die besseren Wandler, weil weibliche Wandler Farbabstufungen überwiegend besser erkannten, und sie lebten in der Regel länger als männliche Wandler. Und Kulturen, die daraus gefolgert hatten, dass Orholam Frauen bevorzuge, mochten es nicht, wenn man ihnen unterstellte, ihr Oberhaupt sei ein Mann.
»Das Dritte Auge residiert am Fuße des Berges Inura.«
Gavin zeigte auf den höchsten der Berge. Er war mit dichtem Grün bewachsen und nicht so hoch, dass es dort eine Baumgrenze gab, aber es war trotzdem eine ordentliche Wanderung bis dorthin. »Wie weit dürfte das sein? Von hier aus ein Fünf-Stunden-Marsch?«
»Sechs.«
»Pferde habt ihr wohl nicht?«, fragte Gavin.
»Wir haben schon ein paar wenige Pferde, aber man geht zu Fuß, wenn man das Dritte Auge sehen will. Es ist eine Pilgerreise. Es gibt dem Besucher Zeit, nachzudenken und seine Seele auf die Begegnung vorzubereiten.«
»Oho. Nun gut, wenn das Dritte Auge mich besuchen kommt, darf sie ruhig reiten. Ich will, dass sie in der richtigen Geistesverfassung ist.«
Caelia schien von innen an ihren Wangen zu kauen. »So wurde es vorhergesagt.«
»Sie hat vorhergesagt, dass ich nicht kommen würde?«, hakte Gavin nach.
»Nein, ich bin immer noch bei der Sache mit dem Arschloch.« Ihre Männer kicherten.
»Falls es hilft: Ich bin nicht launisch. Ich habe zu arbeiten. Ich werde hier sein und meine Arbeit machen.«
Caelia ließ ihren Blick über die zweihundert bewaffneten Männer schweifen, die Gavin und Karris umstellt hatten. »Ihr wisst, dass ich darauf bestehen könnte. Diese Männer sind nicht nur bewaffnet, sie sind auch Wandler.«
»Ich bin das Prisma«, betonte Gavin, als sei sie schwer von Begriff. »Denkst du, zweihundert Männer können mich daran hindern, meinen Willen umzusetzen?«
Caelia zögerte. »Ich denke, dass Ihr unnötig den Konflikt sucht.«
»Hört, hört«, murmelte Karris leise.
Manchmal fand Gavin, dass die Welt voller Idioten war. Macht konnte ein Messer sein, aber oft musste sie ein Knüppel sein. Ein Mann wie Hauptmann Eisenfaust konnte sanft und leise sprechen, denn einfach indem er dastand, wirkte er mit seiner bloßen körperlichen Präsenz einschüchternd auf andere. Gavin musste Grenzen setzen und diesen Grenzen selbst Geltung verschaffen, weil er nicht darauf vertraute, dass es andere für ihn taten. Und Grenzen musste er setzen, weil er nicht zulassen durfte, dass andere ihre Entscheidungen auf die Annahme gründeten, er sei schwach. Denn in diesem Fall würde es roher Gewalt bedürfen, damit sie ihre Meinung änderten. Abschreckung ist billiger zu haben als nachträgliche Korrektur von Fehlern.
Aber was er über seinen Willen gesagt hatte, war nicht einfach achtlos dahergeredet. Wandler drückten der Welt immer ihren Willen auf. Unter den mächtigsten Wandlern befanden sich stets auch überdurchschnittlich viele Verrückte, Hundesöhne, Arschlöcher und Diven. Und weil alles von ihnen abhing, ertrug man sie eben. Allen voran Gavin.
Aber je mehr Macht man hat, desto schwerer wird es zu erkennen, wo ihre Grenzen sind.
Außerdem machte es einfach Spaß zu sehen, dass andere einem zu Willen waren. Das fühlte Gavin, als Caelia jetzt Befehle erteilte, ihre Männer zusammentrieb und aufbrach. Er konnte sich einreden, dass es wichtig sei, diese Machtdynamik aufzubauen – schließlich hatte er hier eine Aufgabe und musste die Seher auf die bittere Pille vorbereiten, die sie ihretwegen würden schlucken müssen. Das war schon richtig, aber er musste auch aufpassen, dass ihm seine Macht nicht zu Kopf stieg.
Noch bevor Caelia und ihre Männer verschwunden waren, war Gavin bereits zum Strand zurückgekehrt, wo er den Gleiter versiegelt zurückgelassen hatte.
»Wir haben eine Woche«, teilte er Karris mit. »Diese Bucht ist zu breit, daher werden wir vor der Landspitze Molen bauen müssen. Ich werde die Riffe beseitigen; ich habe vor, sie in einem Zickzackmuster abzutragen, so dass eine feindliche Invasionsflotte zum Untergang verdammt wäre, aber wir müssen die sichere Fahrrinne auch irgendwie markieren, um den Schiffsverkehr der Inselbewohner lenken zu können. Vielleicht durch bewegliche Bojen? Ich bin außerdem noch unschlüssig, wie breit die sichere Fahrrinne sein sollte. Wenn sie zu schmal ist, gelangen nicht genug Vorräte in die Stadt, was das Leben hier für viele Menschen einfach zu teuer machen würde; aber ist sie
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