Die Blendende Klinge
sieben große Ziele.
Es war ein Hirngespinst, ein Märchen, vergebliche Liebesmüh. Gavin lag neben Karris, nah genug, dass sie sich gegenseitig mit ihrem Körper warm halten konnten. Er hatte unruhig geschlafen, wie immer, hatte Alpträume gehabt, wie immer. In dieser Nacht hatte er davon geträumt, dass sein Bruder der blauen Hölle entflohen sei – zweifellos verursacht durch seine nur allzu realen Tagesängste, die ihn verfolgten, weil er Blau verloren hatte. Er schüttelte den Traum ab und schenkte dem stechenden Schmerz und der Enge in seiner Brust keine Beachtung. Die Morgendämmerung nahte. Karris konnte jeden Moment erwachen, und dann würde sie von ihm wegrücken. Sie würden aufstehen, sie würden arbeiten. Früher oder später würden die Bewohner der Insel kommen, entweder um ihn aufzuhalten oder um zu reden. Wenn sie kamen, um ihn zu töten, würden sie bei Nacht kommen. Da es schon dämmerte, hielt er es für unwahrscheinlich, dass sie jetzt angreifen würden. Gavin würde einen weiteren Tag leben.
Das erste seiner Ziele war eigentlich recht einfach, obwohl er bisher ständig daran gescheitert war: Karris die ganze Wahrheit zu sagen. Als die Stadt an den Farbprinzen gefallen war, hatte er das zweite Ziel beinahe aufgegeben: die Bewohner Garristons zu retten, die seinetwegen so viel gelitten hatten. Jetzt war deren Rettung in Sichtweite. Andere Ziele hatte er erreicht: zu lernen, sich schneller als jeder andere lebende Mensch vorwärtszubewegen; gewisse Farben des Spektrums, des regierenden Rates der Chromeria, zu unterwandern und zu schwächen. Weitere Ziele befanden sich noch in Arbeit. Von seinem Vorhaben einmal abgesehen, Karris letztendlich die Wahrheit zu sagen, liefen all seine untergeordneten Ziele schließlich auf ein einziges großes zu, einen grandiosen Plan, an den er kaum zu denken wagte, aus Angst, dass schon das bloße Denken an ihn den Plan irgendwie noch unmöglicher machen würde, als er es ohnehin schon war. Als würde er, indem er daran dachte, das Geheimnis verraten, so dass es ihm für immer aus den Fingern schlüpfte.
Er war seinem toten kleinen Bruder Sevastian etwas Besseres schuldig. Er war seiner Mutter etwas Besseres schuldig, und er war auch Gavin etwas Besseres schuldig.
Noch während er es dachte, war er sich nicht sicher, ob er mit »Gavin« sich selbst meinte oder seinen Bruder.
Karris kuschelte sich an ihn, aber die bloße Bewegung schien ihr Unterbewusstsein die entscheidende Marke überspringen zu lassen, und sie schreckte auf. Er atmete gleichmäßig und tat, als ob er schliefe. Sie zog sich behutsam zurück und eilte lautlos davon, um ihn nicht zu wecken. Sie mochte ihn hassen – verdientermaßen –, aber sie war trotzdem fürsorglich und rücksichtsvoll. Es war eine der Sachen, die er an ihr liebte.
Er hatte sie gehalten, während sie letzte Nacht um ihren Bruder getrauert hatte. Hatte sie gehalten, bis sie eingeschlafen war, und war dann aufgestanden, um die Wache zu übernehmen. Er hatte sie um ihre Tränen beneidet, selbst als sie seine Gefühle erwärmt und seine Sehnsucht nach ihr neu entfacht hatten. Er hatte sie um ihre schlichte, harmlose Trauer um einen toten Bruder beneidet – verglichen mit dem Grauen und den Schuldgefühlen ob eines lebenden Bruders, mit denen er zu kämpfen hatte. Kein Wunder, dass er von ihm geträumt hatte. Dennoch hatte die letzte Nacht nichts zwischen ihnen geändert. Für den heutigen Tag erwartete er ein schroffes Danke, wenn überhaupt. Dann würde alles wieder ganz normal, wie immer sein.
Nur dass die Tage von »ganz normal« nun gezählt waren. Karris war nicht dumm: Ziemlich bald würde sie merken, dass er kein Blau mehr wandeln konnte. Und sie hatte bereits beunruhigende Fragen gestellt.
Die Wahrheit war, dass all seine Ziele in eine Richtung zielten, nur nicht das eine – Karris die Wahrheit zu sagen –, das den übrigen direkt entgegenlief. Karris war die größte Bedrohung für seine Pläne. Und Karris war immun gegen Schmeichelei oder Druck. Für sie zählte nichts als ihr eigenes Gerechtigkeitsgefühl. Wenn sie meinte, dass es das Richtige sei, ihn zu ruinieren, würde sie es tun, egal welcher Preis dafür zu zahlen war.
Das Klügste wäre, sie zu behandeln wie jedes andere Hindernis auch und sie aus dem Weg zu räumen.
Das hieß nicht, dass er sie töten musste. Er könnte sie auf eine der äußeren Inseln bringen, wo selbst Kaufleute nur einmal im Jahr vorbeikamen, und sie einfach dort
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