Die Blendende Klinge

Tyreaner unter euch hat man vielleicht beigebracht, auf Grundlage dieses Zwölfersystems zu zählen und zu rechnen. Wenn ja, werdet ihr euch in dieser Klasse viel, viel schwerer tun. Dieses Zahlensystem ist sündhaft, und ihr dürft es in Zukunft nicht mehr verwenden. ›Sündhaft?‹, werdet ihr fragen. Ja, sündhaft und gotteslästerlich. Wie kann ein Zahlensystem sündhaft sein? Nun, wie kann sich ein Zahlensystem auf Zwölfen gründen? Weiß irgendjemand, worauf sich unser Zahlensystem gründet?«
    »Zehn«, sagte ein Mädchen in der vorderen Reihe.
    »Richtig. Und warum ist das so auch sinnvoll?«
    Niemand antwortete. »Finger«, sagte Kip und gab den Klugscheißer.
    »Du hältst das für einen Witz, aber auch ein Trottel kann mal recht haben.«
    Kip zog verstimmt die Brauen zusammen.
    »Es ist wahr. Finger und Zehen. Wenn also Finger und Zehen für Primitive und Idioten die einfachste Art zu zählen sind«, sie sah Kip an, »vor allem vor Einführung von Pergament oder Papier, wieso zählt dann eine Gesellschaft auf Basis der Zwölf?«
    Die grimmige Falte zwischen Kips Brauen wurde steiler.
    Ein Mädchen in den hinteren Bänken hob die Hand. Magistra Hena rief sie auf. »Die tyreanischen Götter hatten sechs Finger und sechs Zehen.«
    »Genau. Aus diesem Grund kann man auch immer wieder Geschichten von Kindern mit sechs Fingern und sechs Zehen hören, die in bestimmten abergläubischen Winkeln der Welt wie Heilige verehrt werden. Du kennst derlei bestimmt, nicht wahr, Junge?«
    »Ich heiße Kip , und nein, ich habe noch nie etwas Derartiges gehört.«
    »Nun, dann waren deine Eltern vielleicht besonders aufgeklärte Tyreaner. Oder wahrscheinlich so beschränkt, dass sie nicht einmal um ihre Beschränktheit wussten.«
    Kip öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder. Lass es bleiben, Kip. Es spielt keine Rolle. Er hatte plötzlich Hunger.
    Die folgende Stunde verbrachten sie damit zu lernen, wie man einen Abakus benutzt. Die vier Perlen in der unteren Reihe wurden die Erdperlen genannt, und die eine Perle in der obersten Reihe war die Himmelsperle. Zuerst zählten sie einfach, rauf und runter, addierten um eins, subtrahierten um eins. Dann addierten und subtrahierten sie um zwei, dann um fünf.
    Einige der Schüler langweilten sich sichtlich, weil sie das alles schon längst gelernt hatten. Andere, wie Kip, hatten Mühe, selbst mit den einfachsten Rechenaufgaben Schritt zu halten. Aber diejenigen, die sich am schwersten taten, waren die wenigen, die die Verwendung des Abakus auf Basis des Duodezimalsystems gelernt hatten. Sie wirkten wie gelähmt; alles, was sie gelernt hatten, war falsch.
    Kips nächste Unterrichtsstunde – Eigenschaften des Luxins – war da besser. Der Lehrer war ein ilytanischer Magister mit Frettchengesicht, der sich in seinen Redepausen auf seinen Gehstock stützte. Kip war überrascht festzustellen, dass die Hälfte der Anwesenden Nichtwandler waren. Und die Nichtwandler waren alle klug und voller Elan. Bei diesen Leuten handelte es sich um die zukünftigen Architekten und Baumeister der Sieben Satrapien. Wie auch im Fall der Wandler wurde diesen Jungen und Mädchen das Schulgeld von ihren Satrapen gezahlt. Einige hatten Verbindungen – zweite und dritte Söhne von Edelleuten, denen man eine Möglichkeit geben musste, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber selbst sie hatten Eignungsprüfungen bestehen müssen, um aufgenommen zu werden.
    Kip konnte sofort erkennen, dass diese Kinder nicht erst lernen mussten, wie man mit dem Abakus umging.
    Allerdings waren auch die praktischen Übungen ziemlich grundlegender Natur. Etwa dreißig Quadratzentimeter große daumendicke Platten aus blauem Luxin wurden auf einen tragenden Rahmen gelegt, dann wurden sie in der Mitte mit Gewichten beschwert, bis die Platte zerbrach. Das Gleiche wiederholten sie mit Grün und mit von Superchromatinnen gewandeltem Gelb.
    Magister Atagamo ließ dann alle Schüler, die es konnten, ihre eigenen blauen Luxin-Platten wandeln. Er prüfte das Produkt jedes Einzelnen. Die Platten brachen allesamt schon bei viel kleineren Belastungen. »Später werde ich euch auswendig lernen lassen, wie dünn blaues Luxin in der Theorie maximal sein kann, um noch einen Körper tragen zu können, damit ihr die ganze Bandbreite kennt. Im Moment, so sollt ihr wissen, geht es uns umgekehrt um die maximale Dicke. Die Luxine, mit denen wir arbeiten müssen, wurden von Superchromatinnen gewandelt. Euer eigenes Luxin wird weniger stabil