Die Blüte des Eukalyptus
Geräuschen und Gerüchen, die seine Sinne berauschten. Kuchen und Brot verströmten das Aroma von Zimt und Gewürzen, der Duft der Blumen wehte von den Karren herüber, und die Dienstmädchen genossen mit übermütigem Lachen den ersten Maitag, einen ihrer seltenen freien Tage.
Daniel blieb vor einem Geschäft stehen, dessen Schild ihn in seinen Bann zog. Kunsthandel und Rahmen – Inh. Maynard Plews . Im Schaufenster lag das Gemälde einer blau gewandeten Jungfrau Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm. Aus ihren jugendlichen Zügen sprach bedingungslose Hingabe. Das Kind hatte mehr Ähnlichkeit mit einem winzigen Erwachsenen als den Säuglingen, die Daniel in seinem Leben gesehen hatte, trotzdem war die Entdeckung ein Augenblick reiner Magie. Auf der gedruckten Karte daneben stand: »Unbekannter Künstler, ca. siebzehntes Jahrhundert.« Und in diesem Augenblick verschmolz das sanfte Gesicht der Jungfrau für immer mit dem seiner toten Mutter.
Er holte tief Luft, um seine Nervosität zu unterdrücken, und betrat die Galerie. Der längliche Raum war menschenleer, die
Wände waren mit Reihen von Gemälden bedeckt. Wie verzaubert rannte er zwischen ihnen hin und her – ein Schmetterling, der sich in einem Gewächshaus voller exotischer Blüten am Pollen berauscht.
Plötzlich merkte Daniel, dass er von einem graubärtigen Mann mit blassen blauen Augen beobachtet wurde, die hinter seinen Brillengläsern glänzten. Der Mann hatte etwas, das Daniel ermunterte, seine Schüchternheit zu überwinden.
»Sir, ich bin gerade erst in Chester angekommen und habe noch keine Arbeit gefunden. Daher könnte ich Ihnen nicht einmal den Rahmen Ihres kleinsten Gemäldes abkaufen.«
Der Mann nickte, als hätte diese Tatsache keinerlei Bedeutung. »Mein Name ist Maynard Plews. Mich interessiert die Meinung aller Besucher – Mäzene, Kunden oder Studenten wie du. Wenn Geld keine Rolle spielte und du ein Bild kaufen wolltest, für welches würdest du dich entscheiden?«
Daniel fühlte sich geschmeichelt, dass man ihn für einen Kunststudenten hielt.
»Es gibt drei. Hätte ich Geld, würde ich sogar aufs Essen verzichten, um alle drei zu besitzen.«
Als er aufgefordert wurde, zu erklären, weshalb sie ihm gefielen, zeigte Daniel auf zwei Porträts, ein Diptychon von einem Mann und einem jungen Mädchen vor dem Hintergrund einer sonnendurchfluteten, olivgrünen Landschaft, die sich nicht im britischen Empire befinden konnte.
Plews’ verständnisvoller Blick ermunterte Daniel, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Ohne nachzudenken, erklärte er, wie man der Anordnung der Landschaft entnehmen konnte, dass es sich bei dem Paar um Mitglieder einer Familie handelte. Aus den Kunstbüchern des Vikars wusste er, dass die reich verzierte Kleidung des Paars aus dem Mittelalter stammen musste. Die Hand auf dem Dolch im Gürtel des Edelmanns war mit Ringen geschmückt – wie die einer Frau. Daniel hatte das Gefühl, dass die schwarzen Augen ihn voller Verachtung anblickten.
»Sehen Sie, wie sich seine Unterlippe kräuselt – er glaubt, sein Wort stehe über dem Gesetz. Er ist der Inbegriff von … von …« Daniel kam ins Stottern, als er nach dem richtigen Wort suchte.
»Anmaßung?«, half Maynard Plews nach.
»Aye, aber es ist noch mehr. Der Künstler verrät uns, dass der Edelmann versucht, etwas zu verstecken. Er hat ihn mit lauter kostbaren Gegenständen umgeben, einem Kelch und der Verzierung über dem Familienwappen, und doch scheint er sich nicht wohlzufühlen, als wäre er fehl am Platze.«
Wieder stockte Daniel, aus Angst, seine Worte könnten seine Unwissenheit verraten.
Maynard Plews nickte. »Und was siehst du in der Frau?«
»Feine Kleider, aber sie ist nicht so weltgewandt wie er. Sie betastet ihren Ehering wie eine nervöse junge Braut. Der Künstler hat ihren Blick auf ihn gerichtet, als fürchtete sie sich vor ihm.«
Plötzlich fühlte sich Daniel bloßgestellt. »Aber was weiß ich schon, Sir? Das sind die ersten Gemälde, die ich nicht in einem Buch sehe.«
»Du hast eine natürliche Begabung, Menschen unabhängig von allem luxuriösen Beiwerk zu beurteilen. Der Mann war der uneheliche Spross eines italienischen Edelmanns und wurde später vom legitimen Erben seines Vaters verjagt. Die Braut war ihm bereits als Kind versprochen worden, um zwei Familien miteinander zu verbinden. Ihr Zukünftiger jedoch verschleuderte die Mitgift für seinen Lieblingshöfling, einen hübschen Knaben .«
»Das ist eine abscheuliche
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