Die Blueten der Freiheit
steht Ihr nun – wieder einmal – ohne angemessenen Erben da.«
Der Marquis ignorierte den Grafen und kam auf mich zu. Ich wollte ihm das Kind geben, doch er schüttelte den Kopf und betrachtete es bloß von oben herab. Er lächelte traurig, als er in das kleine, friedliche Gesicht blickte. Er streckte den Finger aus, um die pralle Wange des Kindes zu streicheln. »Ich nehme an, wir müssen wohl dankbar dafür sein, dass es so ist, wie es ist. Wir dürfen nicht undankbar gegenüber einem Geschenk Gottes sein.«
»Natürlich nicht«, erwiderte der Graf triumphierend.
Der Marquis tätschelte dem Kind den Kopf und wandte sich ab. Er nahm den Grafen mit, als er die Kammer verließ.
Gott sei Dank!
Ich ließ das Kind auf dem Bett liegen und trat ein wenig zurück. Ich überlegte, wie ich weiter vorgehen sollte. Ich schien stets jene zu verletzen, die ich am meisten liebte. Doch das Leben dieses Kindes lag nun in meinen Händen. Ich musste ihn beschützen. Zumindest konnte er meine Zuneigung nicht erwecken, und das schien wohl am ehesten seine Sicherheit zu garantieren.
Trotz meiner guten Vorsätze verliebte ich mich irgendwann zwischen dem ersten und dem dritten Tag in ihn. Irgendwann zwischen den Besuchen der schwachköpfigen, vollbusigen Amme. Irgendwann im Laufe der langen Nächte, in denen das Gurren des Kindes die Stunden verstreichen ließ, fand er einen Weg in mein Herz. Jetzt, wo das Kind bei mir war, war ich nicht länger alleine. Ich hatte jemanden gefunden, der noch verwundbarer war als ich selbst.
Jemanden, der vollkommen von mir abhängig war.
Ich konnte diesem Kind nichts antun. Und ich würde es auch nicht.
Die Gleichgültigkeit der anderen bot uns den besten Schutz. Die Marquise wollte ihn nicht sehen. Der Marquis fragte nie nach ihm. Und auch der Graf kam nicht zu Besuch.
Die Amme war die Einzige, vor der ich mich in Acht nehmen musste.
Ich war die Einzige, die sich um das Kind kümmerte. Wenn er schniefte, war ich es, die bemerkte, dass er sich seine Decke heruntergestrampelt hatte. Wenn er zu weinen begann, lange bevor die Amme das nächste Mal kommen würde, war ich es, die ihn lehrte, sich damit zufriedenzugeben, an meinem kleinen Finger zu nuckeln.
Der Graf schien jegliches Interesse an mir verloren zu haben, sobald festgestanden hatte, dass das Kind ein Mädchen war. Dennoch konnte ich nicht fortgehen. Das Leben des Kindes hing von mir ab. Wenn ich das Geheimnis bewahren konnte, bis die Familie an den königlichen Hof zurückgekehrt war, dann konnte ich dem Marquis das wahre Geschlecht des Kindes verraten. Am königlichen Hof wäre es unter den vielen Menschen in Sicherheit. Der Graf würde es nicht wagen, dem Kind vor allen Leuten etwas anzutun. Und bis es so weit war, mussten wir beide – er und ich – bloß durchhalten.
Kapitel 34
Der Graf von Montreau
Château Eronville
Provinz Orléanais, Frankreich
T rotz der wohldurchdachten Pläne meines Vaters war ich noch immer rechtmäßiger Erbe des Marquis von Eronville. Die Ironie bestand darin, dass mein Vater während der ersten sieben Jahre meines Lebens nicht einmal gewusst hatte, dass er einen Erben hatte. Bis zu dem Tag, als er mich dabei überraschte, wie ich meinen Nachttopf benutzte.
»Sie ist ein … ein Junge!«
»Natürlich nicht.« Meine Mutter packte mich an der Hand und versuchte, mich mit sich auf den Flur hinauszuzerren.
Doch mein Vater folgte uns. »Aber sie ist ein – er ist ein Junge.« Seine Stimme klang nun überzeugter. Und etwas in mir freute sich über seine Feststellung. Er würde sich nicht über die Art, wie ich mich bewegte, lustig machen. Er würde nicht ständig in meinem Gesicht nach Anzeichen »männlicher Sündhaftigkeit« suchen oder selbst die feinsten Haare an meinem Hals ausreißen. Und vielleicht würde er mich auch nicht ständig abmessen, um mich dann um die Hüfte herum abzubinden.
»Es ist ein Junge. «
Meine Mutter ließ meine Hand los und fuhr zu ihm herum. »Und wenn sie es tatsächlich ist? Du hast mir bereits alles genommen. Alles, was ich wollte, war ein Mädchen. Ein Mädchen, das mich nicht im Stich lassen und mir nicht weh tun würde.«
»Ich habe dir alles genommen? Was habe ich dir denn genommen? Von dem Moment an, als wir uns das erste Mal sahen, hast du dich mir praktisch an den Hals geworfen!«
»Wir waren doch noch Kinder!«
»Du warst kein Kind mehr. Du hast mich verführt.«
»Ich war bloß ein Mädchen, das getan hat, was meine Mutter mir gesagt
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