Die Blume von Surinam
Zerstreuung, und das merkte ihr inzwischen jeder an. Sie war unausstehlich.
»Die Menschen hier sind so … so … altbacken«, hatte sie sichbei Wim beschwert. Er konnte dem nicht widersprechen, in Surinam schien die Uhr um einige Jahre zurückgedreht.
Doch im Gegensatz zu Gesine fühlte Wim sich hier sehr wohl. Ja, er fühlte sich in diesem Haus sogar bei Weitem wohler, als er es in den Niederlanden in den letzten Monaten getan hatte. Jean hatte ihm bereits einige interessante Männer vorgestellt, die zwar auch alle auf Berichte über die neuen Entwicklungen in Europa brannten, aber Wim hatte es keineswegs als Last empfunden, darüber Auskunft zu geben. Durch die Gespräche mit diesen Männern lernte er die Gegebenheiten in der Kolonie besser kennen, und vielleicht würde ihm eine dieser neuen Bekanntschaften später hilfreich sein, man konnte schließlich nie wissen.
Während sie durch breite Palmenalleen und über hölzerne Brücken fuhren, genoss Wim die Ansichten der Stadt. Er staunte zum wiederholten Male über den Kontrast, der sich ihm bot. Viele Dinge waren nicht anders als in Europa, doch immer wenn er gerade der Vorstellung erlag, in der Heimat zu sein, gab es etwas, das nicht in das Bild passen wollte. Mal war es ein besonders großer, farbenprächtiger Vogel, mal ein schwer tragender Orangenbaum oder einfach eine Gruppe schwarzer Frauen, die sich lautstark am Straßenrand unterhielten. Aber Wim fand die Stimmung in Surinam wesentlich angenehmer und gelassener als in der Heimat. Hier schien alles etwas lockerer und nicht so formell wie in Europa zu sein. So zumindest war sein erster Eindruck. Hier gab es keinen Stress, kaum Zeitdruck, und die Tage verliefen stets im Rhythmus des Wetters. Wenn es regnete oder besonders heiß war, verlegte man die Arbeit kurzerhand in die Abendstunden. Dafür hatte man morgens wiederum etwas mehr Zeit zum Müßiggang. Wim hatte sich schnell an diesen Rhythmus gewöhnt.
Als sie an einer Kreuzung das Tempo verlangsamten und schließlich abbogen, fiel Wims Blick auf einen jungen schwarzen Mann, der einen hölzernen Karren schob. Der Jüngling warwohlgebaut, seine Haut glänzte über seinen gespannten Muskeln. Wim musste nach Luft schnappen, ihn übermannte ein kurzes, aber beißendes körperliches Begehren. Schnell wandte er den Blick ab. Er durfte und würde dem nicht nachgeben.
»Da vorne ist das Haus der van Dravens. Ich finde es sehr höflich, dass sie Thijs das Haus überlassen haben«, zerstreute Jean Wims Gedanken.
Wim hatte nicht damit gerechnet, dass es sich beim Stadthaus der ehemaligen Bekannten der Marwijks um einen so imposanten Bau handeln würde. Es war eines der wenigen Häuser, dessen Veranda nicht bis an den Straßenrand heranreichte, das Haus stand vielmehr ein Stück zurückgesetzt und bot somit einer kleinen Auffahrt Platz, die wiederum mit einer gepflegten Zitronenhecke umpflanzt war.
Unter den eisernen Rädern der Kutsche gab der feine Muschelkalk ein leises Knirschen von sich, als der Wagen zum Stehen kam. Ein Schwarzer in akkurater Livree trat aus der Eingangstür und öffnete die kleine Tür der Droschke, um Wim und Jean aussteigen zu lassen.
Ihr Gastgeber erwartete sie in der Eingangshalle.
»Hallo, ich freue mich, euch wiederzusehen.« Thijs reichte beiden Männern die Hand, während der Bedienstete ihnen die Jacken und Hüte abnahm.
Wim schaute sich mit anerkennendem Blick um. Dieses Haus sprach von dem einstigen Reichtum der Kolonie und von dem Prunk, in dem die Weißen hier gelebt hatten. Plötzlich wunderte es ihn nicht mehr, dass viele der alten Kolonisten so verbittert schienen. Sie hatten in der Tat viel verloren.
»Ich lasse es mir noch etwas gut gehen, bevor ich in den Regenwald reise«, scherzte Thijs, während er seine Gäste in den großzügigen Salon führte. »Wobei wir auch gleich beim Thema wären. Nehmt doch Platz.« Thijs setzte sich auf einen der gepolsterten Sessel, und Wim und Jean taten es ihm gleich. »Ich hoffe, dukannst mir noch etwas über den Zustand der Plantage Watervreede berichten. Ich will nicht gänzlich unvorbereitet dort hinfahren«, fuhr er an Jean gewandt fort.
Wenig später saßen die Männer über eine vergilbte Karte gebeugt. Jean erläuterte die genaue Lage der Plantage und der vermeintlich noch vorhandenen Ländereien sowie der Kreeke, die das Land zur Bewässerung durchzogen.
Wim konnte auf der schemenhaften Zeichnung nicht viel erkennen. Entlang des Flussufers waren die Plantagen jeweils
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