Die Blume von Surinam
sie wusste bis heute nicht mit Bestimmtheit, was in der Zwischenzeit auf der Plantage geschehen war. Sicher war zumindest, dass Pieter aufgrund von illegalen Medikamentenversuchen den Tod einiger Sklaven verschuldet hatte und auch seine Frau in dieser Zeit schwer erkrankte. Dass es seinem Vater damals egal gewesen war, was aus seiner kranken Frau wurde, konnte sie Martin auf keinen Fall sagen. Sie wollte dem Jungen schließlich kein gänzlich schlechtes Bild von seinen Eltern vermitteln. Und dass seine Mutter so große Angst vor seinem Vater gehabt hatte, dass sie es vorzog, schwer krank mit den Kindern in die Stadt zu flüchten, anstatt weiterhin in seiner Nähe auszuharren, das hatte einen guten Grund gehabt. Aber wie sollte sie ihm das erklären?
»Deine Mutter fühlte sich nicht sicher auf der Plantage, deinVater … er hatte andere Dinge im Kopf und hat wohl den Ernst der Krankheit nicht …« Sie hörte selbst, wie lahm das klang.
»Das ist nicht wahr!«, sagte Martin leise und verbittert. »Vater hätte Mutter geholfen, ganz bestimmt.«
»Das konnte er aber offensichtlich nicht, sonst hätte deine Mutter die gefährliche Fahrt in die Stadt doch wohl nicht auf sich genommen.« Dass Martina damals heimlich von der Plantage flüchtete, um sich und die Kinder vor Pieter zu schützen … das konnte Julie Martin unmöglich sagen. »Dein Vater war damals vermutlich so auf seine Arbeit konzentriert, dass er gar nicht bemerkte, wie krank deine Mutter war.« Sie beschloss, dass das als Erklärung im Hinblick auf Pieter reichen musste. »Kiri hat deine Mutter damals in die Stadt begleitet, schließlich war der Wunsch deiner Mutter ihr Befehl und sie musste ja auch für deine und Henrys Sicherheit sorgen. Kiri trifft an der ganzen Sache überhaupt keine Schuld, sie hat nur getan, was ihr gesagt wurde. Deine Mutter wollte in die Stadt. Als sie hier ankam, war sie bereits sehr geschwächt … Wir konnten nichts mehr für sie tun.«
Martins Augen glänzten, und Julie sah, dass er versuchte, die aufsteigenden Tränen mit stetigem Blinzeln zu unterdrücken. Sie widerstand dem Impuls, ihn in den Arm zu nehmen.
»Warum … Warum habt ihr dann nicht nach Vater gerufen? Er hätte … er hätte …«
»Martin – er war kurz darauf hier, aber auch er konnte nichts mehr tun.« Julie hoffte, dass Martin jetzt nicht fragen würde, warum er des Landes verwiesen worden war, aber sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gesponnen, da hob Martin den Kopf und schaute sie vorwurfsvoll an.
»Warum hat man Vater fortgeschickt?«
Julie war der Verzweiflung nahe. Warum konnte der Junge die Dinge nicht einfach auf sich beruhen lassen! Die Geschehnisse nach Martinas Tod lasteten immer noch schwer auf Julies Herz. Nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst gehabt wie damals undsie hoffte inständig, so etwas nie wieder erleben zu müssen. Doch gerade deshalb durfte sie dem Jungen diesen Teil der Geschichte nicht vorenthalten, auch wenn sie damit an dem Bild seines Vaters kratzte. »Martin, dein Vater … es war wohl alles etwas viel damals für ihn … aber … er hat dich und Henry entführt und ins Hinterland verschleppt.« Allein die Erinnerung ließ einen Kloß in ihrem Hals entstehen. »Ich hatte damals fürchterliche Angst um euch.«
»Aber er … er hätte uns doch nichts … getan?« Martin schaute Julie mit verwirrtem Blick an.
»Ich weiß es nicht. Ich denke nicht, aber … er war außer sich … er schien damals zu allem fähig. Und er … er hat dann immerhin auf Jean geschossen.«
»Er hat was? « Martin starrte sie mit großen Augen an. In seinem Blick lag mehr als Überraschung, Julie meinte für einen Augenblick, Abscheu darin gesehen zu haben.
»Ja, Martin, er hat auf Jean geschossen und deswegen … und weil er euch entführt hat und wegen seines Fehlverhaltens als Arzt gegenüber den Sklaven der Plantage, musste er sich dann vor einem Gericht in den Niederlanden verantworten.«
Martin sagte eine Weile kein Wort, und Julie sah, dass er mehrfach heftig schluckte. Sie ahnte die Trauer und die Enttäuschung hinter seiner harten Fassade, und es tat ihr unendlich leid, ihn durch ihre Worte in dieses Gefühlschaos gestürzt zu haben.
»Und … und wann kommt er endlich wieder?«, fragte er plötzlich zögernd, mit der Stimme eines verzweifelten Kindes. Julie zerriss es fast das Herz.
»Das weiß ich nicht, mein Junge.« Sie streichelte Martin kurz vorsichtig über den Kopf. Julie wusste auf seine letzte Frage
Weitere Kostenlose Bücher