Die Blume von Surinam
in den Salon zu einem Gespräch gebeten. Sie wollte nicht, dass tagelang schlechte Stimmung zwischen den dreien herrschte. Zunächst hatte sie darauf gehofft, dass Martin sich bei Karini und Henry entschuldigen und die Sache damit vergessen sein würde. Martin aber war offensichtlich anderer Ansicht. Anstatt um Verzeihung zu bitten, hatte er das Gespräch wieder auf seine leiblichen Eltern gelenkt. Henry und Karini standen mit hängenden Köpfen neben ihm, ihnen war die Situation sichtlich unangenehm. Julie seufzte innerlich auf, nun war er gekommen, der Moment, vor dem sie sich all die Jahre gefürchtet hatte. Sie fühlte sich immer noch nicht bereit, aber würde sie das jemals sein? Sie betrachtete Martin nachdenklich und holte tief Luft.
»Also gut. Henry, Karini, geht bitte nach oben, wir sprechen später noch einmal. Martin, setz dich.« Sie zeigte auf den Stuhl neben sich.
Während Henry und Karini den Raum verließen, trat Martin zwar einen Schritt näher, machte aber keine Anstalten, Platz zu nehmen. Julie wartete eine Weile, dann stand sie auf und ging zum Fenster. Sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Jean hatte sie oft genug gedrängt, das Thema mit Martin zu besprechen, aber sie hatte sich immer davor gescheut und nie den vermeintlich richtigen Zeitpunkt gefunden. Und nun war Martin schon fast sechzehn! War es jetzt gar zu spät? Andererseits … war erüberhaupt reif genug für die Wahrheit? Würde er ihr verzeihen, ihn so lange im Unklaren gelassen zu haben?
»Martin … deine Mutter war damals sehr krank«, begann sie schließlich zögerlich. »Sie hatte hohes Fieber. Das habe ich dir bereits mehrmals erklärt.« Sie drehte sich zu dem Jungen um und sah ihm in die Augen.
Martin reckte den Kopf, in seinem Gesicht lag plötzlich ein verächtlicher Ausdruck. »Ja, und deine Sklavin hat sie in die Stadt gebracht. Wie dumm von ihr, sie ist schuld an ihrem Tod! Wäre meine Mutter damals bei Vater geblieben …«
»Nein, das stimmt nicht!« Julie musste sich beherrschen, nicht laut zu werden. Anscheinend hatte Martin sich im Laufe der Zeit eine Geschichte zusammengereimt.
»Kiri hat deine Mutter damals auf ihren eigenen Wunsch von der Plantage in die Stadt gebracht. Auf der Plantage … deine Mutter hatte … sie meinte, in der Stadt würde man ihr besser helfen können.«
»Aber Vater ist Arzt! Er hätte ihr geholfen, wenn deine dumme Sklavin sie nur dagelassen hätte.«
Julie fühlte sich zunehmend unbehaglich. Martins Ausdrucksweise erinnerte sie unangenehm an seinen Vater, und die Tatsache, dass er seinem Vater nicht nur äußerlich, sondern auch in der Art seiner Rede immer ähnlicher wurde, trieb Julie einen kalten Schauder über den Rücken. Und wie in den Konfrontationen mit Pieter spürte sie Wut in sich aufsteigen. So war es damals nicht gewesen, aber konnte sie dem Jungen das sagen? Doch so konnte sie es auch nicht stehen lassen.
»Martin. Setz dich!« Ihr Ton duldete keinen Widerspruch, und sie beobachtete angespannt, dass er tatsächlich Platz nahm. Seufzend zog sie sich ihren Stuhl heran und beugte sich vor. »Also gut, ich erzähle dir jetzt, was damals vorgefallen ist. Vorab möchte ich dir allerdings sagen, dass wir dich sehr lieben und du absolut nichts für das kannst, was damals passiert ist. Es war der letzteWunsch deiner Mutter, dass ich mich um dich kümmere wie um einen eigenen Sohn. Und das habe ich immer getan und werde es auch immer tun. Egal, was passiert.« Julie versuchte, seine Hand zu nehmen, aber er entzog sie ihr.
»Ich war damals in der Stadt …«, Julie hielt inne. Da ging es doch schon los. Sie konnte Martin nicht erklären, dass sie in die Stadt geflohen war, um Jean zu suchen, der damals gar nicht wusste, dass Henry sein leiblicher Sohn war. Und dass Martins Vater das Kind unterdessen auf der Plantage als Pfand benutzte, um Julie zu erpressen. Weil er verhindern wollte, dass Julie nach Karls Tod Ansprüche auf die Plantage Rozenburg anmeldete, die sie als dessen Witwe, ebenso wie Henry als dessen offiziell anerkannter Sohn, durchaus hatte. Pieter aber hatte die Verwaltung der Plantage an sich gerissen und sich sogar das Sorgerecht für Henry kurzzeitig erstritten. Er war der Ansicht, die Plantage stünde ihm und seiner Frau Martina zu, Karls Tochter aus erster Ehe. Julie hatte damals keinen anderen Ausweg gesehen, als Jean zu finden, der ihr helfen sollte und der sicher wusste, was zu tun war. Die Suche aber hatte länger gedauert als geplant, und
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