Die Blume von Surinam
freigestellt waren.
Karini blickte unentschlossen zu ihrer Mutter und Inika, aber es war wohl besser und sicherer, hier zu warten. Sie hatte große Angst um die Misi. Vor ihrem inneren Auge blitzten schaurige Bilder von riesigen Jaguaren auf. Und von bockenden und stürzenden Pferden. Wenn die Misi nun von dem Jaguar … oder unter das Pferd geraten war … sie kniff die Augen zusammen und holte tief Luft. Nein! Alles würde gut werden, wahrscheinlich war das Pferd nur fortgelaufen, und die Misi würde gleich lachend zu Fuß den Weg von den Feldern gelaufen kommen. Aber die Misi kam nicht.
Kaum hatten sie sich auf die Veranda zurückgezogen, ertönte aus der Ferne ein Schuss. Alle zuckten zusammen. Das konnte nur einer der Aufseher oder Masra Jean gewesen sein.
Danach verging die Zeit im Schneckentempo. Karini stand ander Balustrade und drückte immer und immer wieder nervös die Fingernägel in das weiche Holz. Eine Ewigkeit später hörte sie von Weitem das Wiehern eines Pferdes. Sie rannte sofort los. Bis zu den Zuckerrohrfeldern musste sie den Wirtschaftshof überqueren und durch das ganze Arbeiterdorf laufen, aber Karini konnte auf dem langen Weg, der fast schnurgerade in die Felder führte, bereits die beiden Pferde sehen. Einige Frauen aus dem Dorf und auch ihre Mutter eilten ihr nach.
Es war Masra Jean, der Misi Juliette auf seinen Armen trug, dahinter folgte Masra Henry mit den Pferden an der Hand.
Masra Jean rief von Weitem: »Wasser! Stellt im Haus Wasser bereit!«, woraufhin Liv auf dem Absatz kehrtmachte und in Richtung Plantagenhaus zurückrannte. Kiri hingegen eilte dem Masra zu Hilfe, dicht gefolgt von Inika und Karini. Masra Jean trug unbeirrt Misi Juliette, die schlaff in seinen Armen lag, weiter in Richtung Plantage. Die Misi blutete am Kopf. Karini wurde starr vor Schreck, und ihr Magen krampfte sich zusammen.
»Ist sie …?«, hörte Karini Inika leise neben sich flüstern.
»Nein, ich glaube, sie lebt«, flüsterte Karini, mehr hoffend als wissend. Sie konnte den Blick nicht von den blutverklebten Haaren der Misi lösen. Ein Schnauben schließlich ließ ihren Blick zu Masra Henry und den Pferden wandern. Die Stute der Misi lahmte deutlich und ließ den Kopf fast bis auf den Boden hängen. Ein Arbeiter, der hinter den Pferden ging, musste sie immer wieder sanft antreiben, damit Masra Henry sie überhaupt weiterführen konnte.
Hinter dem Arbeiter erblickte Karini eine Schar weiterer Männer, von denen zwei auf ihren Schultern eine lange Stange trugen. An dieser hing, mit den großen Pranken nach oben festgebunden, der leblose Körper eines mächtigen Jaguars. Inika gab beim Anblick des großen Tieres einen entsetzten Laut von sich.
»Ist das …?«
Karini nickte. »Ja, der Jaguar, aber er ist tot. Komm, Inika, wirmüssen helfen.« Sie zog das sichtlich schockierte Mädchen mit sich hinter Masra Henry her zum Stall, wo er die Pferde anband und ihnen die Sättel abnahm, während Masra Martin half, die Misi ins Haus zu bringen, dicht gefolgt von Tante Aniga, die als Heilerin für das Wohl der Menschen auf der Plantage zuständig war.
Karini nahm Masra Henry über den Zaun hinweg einen der Sättel ab. Masra Henry war verschwitzt und voller Dreck. Sie sah den Schmerz in seinen Augen, seine Miene war starr, seine Bewegungen verkrampft und zielstrebig. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, wie sehr er litt, trotzdem konnte sie sich die Frage nicht verkneifen. Sie musste es einfach wissen. »Deine Mutter … hat der Jaguar …?«
»Nein.«
Nein. Karini spürte, wie sie ein Gefühl der Erleichterung überkam. Die Misi lebte.
»Ich schätze, Fina hat gescheut und sie abgeworfen«, sagte Masra Henry jetzt leise. »Sie lag auf einem Weg nahe am Waldrand. Das Pferd hat die Raubkatze bestimmt gewittert. Dem Himmel sei Dank, dass der Jaguar es dann aber wohl auf die Stute abgesehen hat.« Er zeigte auf die blutende Flanke der Stute. »Sie hat sich vermutlich gewehrt und ihm ein paar heftige Huftritte verpasst. Wir haben ihn in einiger Entfernung zu meiner Mutter gefunden, er lebte noch, aber die Stute hatte ihm übel zugesetzt. Jean hat ihm dann den Gnadenschuss gegeben.« Anerkennend klopfte er dem erschöpften Tier den Hals, um dann mit besorgtem Blick die Wunde zu begutachten. Karini sah, dass seine Hand zitterte. Das Blut war zu dunklen Schlieren getrocknet, und unzählige Fliegen umschwirrten die Wunde. Auch die Misi hatte eine blutende Wunde gehabt. Am Kopf …
»Ist … ist deine
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