Die Blut-Loge
oder er ihm ein Lächeln schenkte. Und er liebte den Duft, der von dem jungen Vampir ausging, eine Mischung aus weißem Lotus und Patchouli.
Natürlich war es Leon nicht entgangen, dass sein Kollege an manchen Abenden mit Mädchen tanzte oder gar mit ihnen das Lokal verließ. Aber es war nicht ungewöhnlich, dass einige aus ihrer Szene ab und zu zweigleisig fuhren.
Hätte er geahnt, dass besagte Mädchen für Jerome nur Mittel zum Zweck waren, so hätte er sich gleich wieder Hoffnung gemacht.
Heute Abend erschien Leon irgendwie aufgekratzt. Eine Neuigkeit lag ihm auf der Zunge, die er nicht mehr für sich behalten wollte. Vertraulich legte Leon seinen Arm um Jeromes Schultern. „Weißt du, wer heute Abend im Publikum sitzen wird? Meine Schwester Laura. Stell dir vor, wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Wir sind nach dem Tod unserer Eltern getrennt aufgewachsen, weißt du. Ich war bei Pflegeeltern, aber die arme Laura ist nicht aus diesem blöden Heim herausgekommen bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr. Sie arbeitet jetzt als Sekretärin in einem Versicherungsbüro und muss wohl Nachforschungen angestellt haben, denn irgendwie ist sie an meine Telefonnummer gekommen, und gestern rief sie an. Ich bin ganz aufgeregt. Ich hoffe nur, dass sie mich trotzdem mag.“ Leon ratterte diese Sätze ohne Punkt und Komma aufgeregt wie ein Stenograf herunter und blickte nun zweifelnd auf sein Kostüm, das wirklich hauteng saß und die künstlich geschaffenen, weiblichen Formen aufreizend betonte. Jerome hatte schweigend und fast mitleidig zugehört.
„Keine Sorge“, meinte er jetzt. „Eigentlich sollte sie stolz auf ihren Bruder sein.“
Leon strahlte ihn daraufhin an wie ein kleiner Junge den Weihnachtsbaum, und Jerome bereute seine Freundlichkeit bereits.
„Vielleicht will sie dir auch nur eine Lebensversicherung andrehen“, giftete Dominik, der das Gespräch mitbekommen hatte, jetzt wieder vor seinem Spiegel. Leon wandte sich beleidigt um und ließ den zickigen Kollegen links liegen.
„Kommt jetzt, ihr Lieben. Husch, husch, wir müssen in fünf Minuten auf der Bühne sein!“, flötete Sid und zwängte sich zwischen ihnen beiden hindurch in Richtung Backstage, um dem Beleuchter auf die Nerven zu gehen.
* * *
Laura Henning hatte es einige Überredungskunst gekostet, ihren Chef davon zu überzeugen, ihr bei der Suche nach ihrem verlorenen Bruder Leon zu helfen. Leon war damals erst acht Jahre alt gewesen, als die Geschwister getrennt wurden. Stefan Heitzer, der lange Zeit als Versicherungsdetektiv tätig gewesen war, hatte sich von ihrer Geschichte erweichen lassen, sie bei ihren Recherchen unterstützt und schließlich den vermissten Bruder aufgetrieben. Laura war zwar verwundert zu hören, dass er wohl offensichtlich das Ufer gewechselt hatte und nun als Drag Queen in einem Hamburger Nachtclub auftrat, aber immerhin, sie hatte ihn wieder gefunden. Und sie wohnten offensichtlich schon seit einigen Jahren in der gleichen Stadt!
Äußerlich sahen sie sich wenig ähnlich. Im Gegensatz zu Leon war Laura eine dunkelhaarige Schönheit, eher klein, zierlich, fast puppenhaft. Große Augen in einem porzellanfarbenen Gesicht unterstrichen diesen Eindruck noch. Trotzdem hatte sie sich bisher tapfer durchs Leben gekämpft, absolvierte nach dem Kinderheim eine Ausbildung zur Bürokauffrau und belegte etliche Zusatzkurse an der VHS, so dass sie sich nun, mit fast Mitte Zwanzig, im Vorzimmer eines Versicherungskonzerns in den letzten zwei Jahren unentbehrlich gemacht hatte.
Heute Abend klopfte ihr Herz bis zum Hals, als sie zum Nachtclub Heartbeat fuhr. Einerseits voller Freude, andererseits ängstlich betrat sie den schummrigen Zuschauerraum, der mit runden Tischen ausgefüllt war, an denen bereits zahlreiche Gäste saßen. Laura erwischte gerade noch einen Sitzplatz an der Bar. Die Musik war übermäßig laut und viel zu höhenlastig. Es war kurz nach dreiundzwanzig Uhr und die Show näherte sich ihrem Höhepunkt, den Sid als Conférencier begeistert ankündigte. Jedes Wochenende präsentierte man hier einen Überraschungsgast. An diesem Samstagabend war es die früh verstorbene deutsche Sängerin Alexandra, die einige ihrer Songs zum Besten gab. In dieser Gestalt erblickte Laura Henning zum ersten Mal den jungen Vampir Jerome Summers. Als Mann nahm sie ihn in dieser Aufmachung jedoch nicht wahr. Er dagegen nahm sie sehr wohl zur Kenntnis, denn trotz ihres Alters umgab sie der Duft der
Weitere Kostenlose Bücher