Die Bluterbin (German Edition)
überlassen hat, oder jagt er wutschnaubend hinter Euch her und taucht jeden Moment hier auf, um sie Euch wieder zu entreißen?“
Bernard schien tatsächlich auf dem Weg der Besserung zu sein.
„Enguerrand musste auf Befehl des Königs nach Paris, und wir haben die Gelegenheit genutzt, um von der Burg zu fliehen. Es freut mich, dass es Euch wieder besser geht. Wir brechen gleich morgen früh wieder auf, seid Ihr in der Lage, mit uns zu reiten?“
Statt einer Antwort erhob sich Bernard und griff nach seinen Stiefeln.
Das Brummen in seinem Schädel hatte Tag für Tag nachgelassen, bis es schließlich ganz verschwunden war, und er fühlte sich erholt und frisch, wenn auch noch etwas kraftlos. Auf keinen Fall würde er hierbleiben.
Abt Simon hatte die Nachricht von der Rückkehr des Grafen de Forez längst erhalten und erwartete ihn seitdem voller Ungeduld in seinen Gemächern.
Immer wieder spielte er mit dem Gedanken, ihm entgegenzugehen, ermahnte sich dann aber selbst mit den Worten, dass Geduld eine Tugend wäre, und blieb, wo er war.
Endlich vernahm er Schritte.
Aufgeregt sprang er auf und starrte erwartungsvoll auf die Türe.
Robert betrat, gefolgt von Bernard und Marie, sein Gemach. Abt Simon begrüßte die beiden Männer höflich, doch seine Augen suchten sofort nach Marie, die etwas seitlich von Robert stand und von dessen Rücken halb verdeckt wurde.
Als ob sie seine Ungeduld spüren würde, trat Marie vor und machte einen Schritt auf den Abt zu. Ihre Augen trafen sich. Sein ganzes Leben lang hatte er auf diesen Tag gewartet, und nun, nachdem er gekommen war und er Marie gesehen hatte, begann die Welt um ihn herum zu schwinden, und es wurde still in ihm. Der Gesang, der in seinen Ohren erklang, war reiner und lieblicher als alles, was er jemals gehört hatte. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte ihn und erfüllte ihn mit einer Wärme, die er vorher nicht gekannt hatte. Jetzt wusste er, dass er tatsächlich nicht allein war, denn er hatte einen Moment lang die Herrlichkeit Gottes erblickt.
Robert und Bernard sahen einander verwirrt an. Beide konnten spüren, dass gerade etwas geschah, das sich nicht in Worte fassen ließ, auch wenn sie nicht wussten, was es war. Und so wagten sie kaum zu atmen, um diesen kostbaren Augenblick nicht zu zerstören.
Es dauerte lange, bis sich Abt Simon wieder aus seiner Erstarrung löste. Dann aber ergriff er voller Dankbarkeit Maries Hände und drückte sie inniglich. Es war ihm deutlich anzusehen, wie bewegt er war.
Sein Blick ging zu dem kunstvoll geschnitzten Holzkreuz neben der Türe.
„Ich danke Dir, Herr, für Deine große Güte“, stammelte er, noch immer überwältigt von seinen Gefühlen.
Marie löste ihre Hände sanft aus den seinen und trat zu Robert. Sie fühlte sich seltsam geborgen in dieser Abtei und bei dem Abt, dessen Augen frei von Lüge waren. Die vier Menschen schwiegen, während jeder auf seine Art versuchte, das gerade Erlebte zu bewältigen.
„Ich hatte recht“, sprach der Abt schließlich als Erster und wie zu sich selbst, erklärte seine Worte aber nicht näher. Er hatte sich dafür entschieden, zu schweigen und das letzte Wissen mit in sein Grab zu nehmen.
Der Abschied am nächsten Morgen verlief herzlich. Abt Simon begleitete seine Gäste noch bis zum Tor. Dann wandte er sich um und begab sich auf dem schnellsten Weg in die verborgene Kammer hinter der kleinen Bibliothek, zu der niemand sonst Zutritt hatte und wo ihn Bruder Jacob bereits erwartete.
„Es ist mir gelungen, hinter einen Teil der Verschlüsselung zu kommen“, raunte er ihm aufgeregt zu.
Einträchtig beugten sich die beiden Männer über die bräunlichen Papyrusblätter, die bei jeder noch so leichten Berührung zu knistern anfingen. Wie hypnotisiert starrten sie auf die hebräischen und aramäischen Schriftzeichen, die von Ereignissen berichteten, die sich vor mehr als über tausend Jahren ereignet hatten und die vielleicht eines der größten Geheimnisse des Christentums enthielten.
Tiefe Nacht umgab die Abtei Saint-Nicolas, deren Bewohner längst schlafen gegangen waren. Nur in der verborgenen Kammer hinter der Bibliothek brannte noch immer Licht, das jedoch nicht nach draußen drang.
Im Schein der Wachskerzen warfen sich Abt Simon und Bruder Jacob einen fassungslosen Blick zu, bevor sie sich erneut über das brüchige Papyrusblatt beugten, das vor ihnen auf dem Schreibpult lag. Immer wieder lasen sie die gerade erst entschlüsselten Schriftzeichen, die von
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