Die Bluterbin (German Edition)
Nacht über hatte er sich, von düsteren Träumen gequält, hin- und hergewälzt, zerrissen von der unerfüllten Sehnsucht nach Gottes Herrlichkeit und der furchtbaren Angst, ihr eines Tages zu begegnen. Um sich abzulenken, hatte er seine Gedanken auf den Dominikanermönch Albertus gerichtet. Sofort war heiße Wut in ihm hochgestiegen. Albertus war für ihn genauso ein Versager wie der strohblonde Otto. Er stieß einige wilde Verwünschungen gegen die beiden aus, was ihn einen Moment lang beruhigte. Am liebsten hätte er sie jedoch beide in der Hölle schmoren sehen, doch solange er Albertus noch brauchte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu beherrschen, auch wenn es ihm noch so schwerfiel.
Und nun war Marie auf einmal hier. Sie war zu ihm zurückgekommen! Wilde Freude überkam ihn. Allein ihr Anblick reichte aus, um ihn von all seinen düsteren Gedanken und Ängsten zu befreien. Seine Nase begann zu zucken, und seine Hände wurden feucht vor Aufregung, als er sich an die verzweifelte Hoffnung klammerte, dass nun doch noch alles gut für ihn ausgehen könnte.
In seiner ersten Euphorie hatte er Maries Begleiter vollständig vergessen, und so traf ihn fast der Schlag, als er mit ansehen musste, wie der Graf de Forez Maries Hand nahm und sie einen Moment lang drückte.
Niemand durfte Marie berühren, schließlich war sie zu ihm zurückgekommen, um ihn von seiner Schuld zu erlösen. Ihre lichte Unschuld würde alle düsteren Schatten vertreiben. Seine Gedanken überschlugen sich, als er fieberhaft überlegte, wie er Marie ein zweites Mal an sich bringen konnte. Noch einmal würde sie ihm gewiss nicht entkommen.
Er raste die schmale Treppe hinunter und verließ die Kathedrale durch die Sakristei. Ohne sich um die neugierigen Blicke der Passanten zu kümmern, rannte er mit wehendem Gewand über den großen Vorplatz zum Bischofspalast. Dort angekommen, begab er sich unverzüglich in seine Privatgemächer und ließ Albertus zu sich rufen. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Marie und Robert ahnten von alledem nichts. Still genossen sie die weihrauchgeschwängerte Atmosphäre der Kathedrale, in der man die Anwesenheit Gottes deutlich spüren konnte.
Hier, unter dem gewölbten Dach des Herrn, das für die Ewigkeit errichtet worden war und das zu sehen die Menschen ihren Kopf weit in den Nacken legen mussten, weil es fast bis in den Himmel reichte, schien die Zeit stillzustehen. Die Gassen waren schmaler, als Marie sie in Erinnerung hatte, aber weit weniger verschmutzt als früher. Die Schweine und Gänse waren aus ihnen verschwunden, und einige der Gassen waren sogar vollständig gepflastert worden, sodass man nicht mehr von einem Trittstein zum anderen hüpfen musste, um trockenen Fußes zu bleiben.
Tatsächlich hatte der Stadtrat erst im letzten Jahr ein neues Gesetz erlassen, nach dem Tiere nur noch in Ställen oder außerhalb der Stadtmauern gehalten werden durften.
Auch die Gasse der Tuchhändler war neu gepflastert worden und rief Marie schmerzhaft ins Bewusstsein, dass nichts so blieb, wie es einmal gewesen war.
Die Angst vor weiteren tief greifenden Veränderungen während ihrer Abwesenheit schnürte ihr die Kehle zu. Vor Aufregung griff sie nach Roberts Hand. Die Berührung beruhigte sie ein wenig, doch der Kloß, den sie in ihrer Kehle verspürte, blieb.
„Ihr braucht Euch nicht zu fürchten. Solange ich bei Euch bin, wird Euch nichts geschehen.“ Sie hatten Maries Elternhaus erreicht, und Robert klopfte entschlossen an die schwere Holztüre.
Marie pochte das Herz bis zum Halse. In wenigen Augenblicken würde sie ihre Familie wiedersehen, von der sie so lange Jahre getrennt gewesen war.
Nichts ahnend öffnete Elsa die Türe und starrte Marie an, als wäre sie eine Erscheinung. Das Wiedersehen kam einfach zu plötzlich und verschlug ihr zunächst einmal die Sprache. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder gefasst hatte.
Erst als sich Marie in ihre Arme warf, begriff sie, dass Gott ihre unzähligen Gebete erhört und ihr kleines Mädchen, das sie längst verloren geglaubt hatte, wohlbehalten wieder zurückgebracht hatte.
Aus dem Inneren des Hauses schallte Eleonores Stimme. Ungeduldig rief sie nach Elsa.
Marie warf Robert einen kurzen Blick zu, in dem Erleichterung, aber auch Unsicherheit stand. Robert nickte ihr kurz aufmunternd zu. Dann folgten sie Elsa ins Innere des Hauses.
„Marie ist zurück“, platzte es aus Elsa heraus, die immer noch
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