Die Bluterbin (German Edition)
gerettet, viele verdammt. Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“, schloss er.
Einen Moment lang blieb es still, und die Menschen nahmen sich, eingeschüchtert von den Worten des Bischofs, fest vor, sich zu ändern und künftig ein gottgefälligeres Leben zu führen. Wer wollte schon in der Hölle schmoren, wenn es doch die Möglichkeit gab, ins himmlische Jerusalem einzuziehen, wo man für immer von jeder Mühsal und irdischen Sorge befreit sein würde? Es war zumindest die einzige Hoffnung, die sie hatten.
Die Mönche erhoben ihre Stimmen zum gemeinsamen Gesang und ließen den Gläubigen Zeit, über ihre Sünden nachzudenken.
Trotz der Hitze, die draußen herrschte, war es im Inneren der Kathedrale angenehm kühl. Glücklich lauschte Marie dem Chor der Mönche. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn sie einfach für immer hier hätte bleiben dürfen, ganz nah bei Gott und Seinen Heiligen, umhüllt vom Duft des Weihrauchs und dem Gesang der Mönche. Weit weg von den Menschen, die sie ablehnten, obwohl sie ihnen nie etwas zuleide getan hatte. Ihre Gedanken wanderten zum König von Frankreich, den sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte und dessen Gesicht sie sich vergeblich vorzustellen versuchte, um sich wenigstens annähernd ein Bild von ihm machen zu können. Wie sehr musste Gott ihn lieben, wenn Er ein solches Wunder an ihm vollbracht hatte.
Doch wie immer ging der Gottesdienst auch dieses Mal viel zu schnell vorüber, und Marie blieb nichts anderes übrig, als die Kathedrale gemeinsam mit ihrer Mutter und den Schwestern wieder zu verlassen.
Als sie durch das Portal lief, löste sich der Riemen an ihrer linken Sandale, ohne dass sie es bemerkte, und sie geriet ins Stolpern. Noch bevor sie auf die harten Pflastersteine stürzte, kam ihr jedoch einer der Kathedralschüler zu Hilfe und fing sie auf.
Er war höchstens achtzehn Jahre alt, doch der stille Ernst, der auf seinen feinen Zügen lag, ließ ihn älter wirken, als er tatsächlich war.
Für einen kurzen Moment trafen nun seine hellen Augen auf die ihren, und der junge Mann lächelte das Mädchen freundlich an.
„Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen“, meinte Robert de Forez mit einem Blick auf den gerissenen Riemen ihrer Sandale. „Ihr solltet ihn reparieren lassen.“ Und mit diesen Worten und einem letzten höflichen Nicken wandte er sich um und folgte seinen Kameraden, die einzeln oder in kleinen Gruppen durch das große Portal strömten, um den Rest des Sonntags in der Stadt oder auch an den grünen Wiesen des Flussufers zu verbringen.
Marie sah ihm dankbar nach, sie war es nicht gewohnt, dass sich jemand ihr gegenüber so zuvorkommend verhielt.
Katharinas schrille Stimme riss sie unsanft aus ihren Gedanken.
„Du bist ein ungeschickter Trampel und wirst nie einen Bräutigam finden“, bemerkte sie gehässig. Marie senkte traurig den Kopf, erwiderte aber wie immer nichts, um Katharina nicht noch mehr gegen sich aufzubringen.
Auf dem Weg nach Hause dachte sie wieder an den liebenswürdigen, gut aussehenden jungen Mann, der ihr so bereitwillig geholfen hatte.
Katharina hat unrecht, dachte sie und presste die Lippen fest zusammen. Er hat mich nicht für ungeschickt gehalten, sonst hätte er mich nicht so freundlich angesehen.
Doch sie behielt ihre Gedanken für sich. Zu Hause angekommen begab sie sich in ihre Kammer und gab sich ihren Tagträumen hin, die sich abwechselnd um König Ludwig und Robert de Forez drehten.
Bis zum Tag des heiligen Nikolaus war es nicht mehr lange hin, und dann dürfte sie endlich wieder das Haus verlassen und die Kathedrale so oft besuchen, wie sie wollte und die tägliche Arbeit es ihr erlaubte.
Martha und Agnes hatten sich entschlossen, zum Fluss hinunterzugehen, wo sich am Sonntag stets die Jugend traf, um ein wenig Abwechslung zu genießen. Dort konnte man den jungen Männern beim Bogenschießen zusehen und sich von ihnen bewundern lassen, den Schülern der Kathedrale bei ihren hochgeistigen Disputen lauschen oder einfach über die von Kanälen durchzogenen, trockengelegten Sümpfe und vorbei an blühenden Obstbäumen und Gemüsegärten spazieren, die vom Gesang der Vögel erfüllt waren. Und immer wieder konnte man dabei beobachten, wie Liebespaare heimlich zwischen Weiden und Pappeln verschwanden, um sich dort einem Schäferstündchen hinzugeben. Eleonore begab sich hingegen in den kleinen Garten hinter ihrem Haus, wo sie sich auf eine Bank neben ihren Rosensträuchern setzte, die sie pflegte,
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