Die Bluterbin (German Edition)
mir gelungen, meinen Hass zu überwinden, doch die schrecklichen Bilder haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, und die Zweifel kommen von Zeit zu Zeit wieder, um mich zu quälen.
Gott in Seiner großen Gnade hat Euch zu mir geschickt, um mir, einem Seiner geringsten Diener, neue Hoffnung zu geben, indem Er einen Engel wie dieses Mädchen auf die Erde gesandt hat. Was würde ich darum geben, ihr einmal begegnen zu dürfen.
Vacare deum non est otium, sed negotium negotiorum – sich Gott anheimzugeben, ist nicht Müßiggang, sondern die wichtigste aller Beschäftigungen.“
Die beiden Männer schwiegen bewegt. Bis auf das Rascheln der Mäuse im Stroh und das Stampfen der Pferde war es ruhig in dem Stallgebäude. Nach einer Weile unterbrach Bruder Gilbert die Stille und kratzte sich nachdenklich das stoppelige Kinn.
„Wisst Ihr, wer dieses Mädchen war?“, wollte er wissen.
„Sie ist die Tochter eines wohlhabenden Tuchhändlers in Bourges, ihren Namen kenne ich nicht“, antwortete ihm der Händler.
Bruder Gilbert reichte ihm die Hand.
„Ich werde in die Kapelle gehen, um Gott für seine große Gnade zu danken. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.“
„Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich im Stall übernachte?“, fragte der Händler.
„Nein, nein, legt Euch ruhig ins Stroh.“ Mit ruhigen Schritten verließ Bruder Gilbert den Stall.
Der Händler schob daraufhin das in einer Ecke liegende Stroh zu einem Lager zusammen und legte sich zum Schlafen darauf. Die unterschiedlichsten Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Was er heute erlebt hatte, war einfach zu viel für ihn, und erst jetzt merkte er, wie müde er war.
Am nächsten Morgen reichten die Mönche Brot und einen Becher verdünnten Weines zum Frühstück. Anschließend segneten sie die Reisenden und entließen sie nach draußen.
Der Zunderhändler hätte sich noch gerne von Bruder Gilbert verabschiedet, doch er konnte den Mönch nirgendwo entdecken, als er sein Pferd aus dem Stall holte und sich schließlich auf den Weg machte.
Ein feuchter Nieselregen hatte eingesetzt und die herrschende Schwüle nochmals verstärkt, aber er achtete nicht darauf. Er konnte es kaum erwarten, seine Familie wiederzusehen und seiner Frau zu erzählen, was ihm alles widerfahren war.
Jean Machaut saß hoch aufgerichtet auf seinem neuen Reitpferd und ritt hinter dem mit kostbaren Stoffballen voll beladenen Wagen her, der von Henry kutschiert wurde. In seinem scharlachfarbenen, aus edlem Stoff gefertigten Reitmantel und dem dazu passenden Reithut bot er fürwahr das wohlgefällige Bild eines wohlhabenden Bürgers. Obwohl sie sich mit dem ersten Licht des Tages aufgemacht hatten, waren sie nicht die Einzigen, die bereits unterwegs waren. Bauern trieben ihre Schweine in die Stadt, und auch die Krüppel und die Aussätzigen mit ihren Klappern waren schon längst unterwegs, immer auf der Suche nach einer milden Gabe.
Jean achtete nicht auf die neugierigen und oft auch neidischen Blicke, die ihm folgten. Eleonore hatte ihm am Tag zuvor schmerzhaft einen Teil seiner Vergangenheit ins Bewusstsein zurückgerufen, den er am liebsten für immer vergessen hätte. Aber er hatte sich etwas vorgemacht, als er geglaubt hatte, die Vergangenheit dadurch verdrängen zu können, dass er einfach nicht mehr an sie dachte oder über sie sprach.
Unwillkürlich wanderten seine Gedanken nun zu dem Tag zurück, an dem seine sorglose Kindheit ein brutales Ende gefunden hatte, und längst vergessen geglaubte Bilder stiegen wieder vor ihm auf.
Es war ein heller sonniger Tag gewesen, und er hatte fröhlich und unbeschwert mit seinem Holzschwert im Hof gespielt und so lange unsichtbare Feinde bekämpft, bis ihn der Hunger irgendwann zurück ins Haus getrieben hatte.
Seine Eltern hatten am Küchentisch gesessen und nicht bemerkt, dass er an der Türe stand und ihr Gespräch mit anhörte. Das Gesicht seines Vaters war düster gewesen, und er selbst hatte auf Jean seltsam hilflos gewirkt.
„Du darfst niemanden mehr heilen, es ist einfach zu gefährlich. Sie haben schon wieder Steine auf unser Haus geworfen. Es wäre besser, wenn wir die Stadt so schnell wie möglich verlassen würden.“
Er hatte die Angst in der Stimme seines Vaters gehört, den er bislang immer für unbesiegbar gehalten hatte, und hätte sich am liebsten in Mutters Armen verkrochen, um sich von ihr trösten zu lassen. Doch er war wie angewurzelt stehen geblieben.
„Es ist Gott, unser Herr, der die Menschen heilt,
Weitere Kostenlose Bücher