Die Bluterbin (German Edition)
nicht ich. Ich bin nur Sein Werkzeug“, hatte seine Mutter mit sanfter Entschlossenheit widersprochen. „Vor Ihm können wir nicht fliehen. Wenn es Sein Wille ist, wird er uns beschützen.“ Doch Gott hatte sie nicht beschützt, sondern einfach vergessen.
Er konnte noch immer die weichen Arme seiner Mutter spüren, die ihn liebevoll umschlossen und ihn über die Gefahr hinweggetäuscht hatten, die unaufhaltsam näher gerückt war.
Dann hatte sich jedoch von jetzt auf gleich der Höllenschlund vor ihnen geöffnet, und die Flammen waren überall gewesen. Gefräßig und unbarmherzig wie Raubtiere hatten sie alles verschlungen, was ihm lieb und teuer gewesen war. Er war aus den weichen Armen seiner Mutter fortgerissen worden, die verzweifelt versucht hatte, ihn festzuhalten.
„Ich liebe dich, mein kleiner Jean“, waren ihre letzten Worte gewesen, und er hatte ihr Gesicht nicht sehen können, als sie ihn ein letztes Mal fest an sich gedrückt hatte, aber die furchtbare Angst, die ihn umklammerte, hatte für einen Moment nachgelassen. Doch dann hatte er ihre schützenden Arme nicht mehr gespürt, und die schrecklichen Flammen, die vor ihm hochschossen, versperrten ihm die Sicht. Es war so entsetzlich heiß gewesen, und er hatte so furchtbare Angst gehabt, dass seine Kehle wie zugeschnürt gewesen war.
Das Grauenvollste von allem war aber der grässlich süßliche Geruch gewesen, der ihn auch heute noch regelmäßig aus dem Schlaf hochfahren ließ und den er wohl bis zu seinem letzten Atemzug nicht mehr vergessen würde, ebenso wenig wie den unversöhnlichen Hass, der ihm und seinen Eltern aus den verzerrten Gesichtern der Leute entgegengeschlagen war und der sich schließlich in zügelloser Gier und purer Mordlust entladen hatte.
Der wütende Pöbel hatte seinen Vater erschlagen und das Haus mitsamt seiner Mutter in Brand gesetzt. Nur das mutige Eingreifen der alten Magd hatte ihn vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt.
Kurz bevor sie das Stadttor erreichten, wandte Henry sich um. Sein Herr sah aus, als wäre er dem Leibhaftigen persönlich begegnet, wie er da so abwesend und mit bleichem Gesicht auf seinem Pferd saß, das brav hinter dem Wagen hertrottete.
Sofort hielt Henry den Wagen an und sprang vom Kutschbock. Jeans Pferd blieb ebenfalls stehen.
„Herr, was ist mit Euch?“, fragte Henry besorgt.
Jean sah ihn an, als würde er gerade erst aus einem tiefen Traum aufwachen.
„Es ist nichts“, meinte er leise. „Lass uns weiterreiten.“
Aber die Worte seiner Frau gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Würde ihn die Vergangenheit selbst in Bourges und nach so vielen Jahren noch einholen?
Sein Onkel, bei dem er nach dem Brand gelebt hatte, hatte nie wieder über seine Eltern gesprochen, und er selbst hatte ihn nie zu fragen gewagt, was damals eigentlich wirklich geschehen war, auch nicht, als er längst erwachsen gewesen war. Jetzt war es zu spät, denn sein Onkel war vor drei Jahren verstorben und hatte sein Wissen für immer mit ins Grab genommen.
War es möglich, dass Maries Krankheit etwas mit der seiner Mutter zu tun hatte? Seine Mutter hatte ebenfalls unter diesen merkwürdigen Anfällen gelitten, die immer dann aufgetreten waren, nachdem sie jemanden geheilt hatte.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock.
Gott wollte ihn strafen, weil er seine Herkunft verleugnet hatte!
Nicht einmal Eleonore ahnte, dass seine Mutter eine Jüdin gewesen war.
Er spürte, wie die alte Wut und der Hass wieder in ihm hochstieg. Gott hatte sie damals im Stich gelassen, obwohl sie Ihm aus ganzem Herzen vertraut hatten, und das würde er Ihm nicht verzeihen. Alle hatten sie ihn alleingelassen, und er hatte sein Herz verschlossen, weil er niemals mehr einen so großen Schmerz hatte erleiden wollen. Er hatte gelernt, nur sich selbst zu vertrauen, und es mit eisernem Willen unaufhaltsam zu Ansehen und Reichtum gebracht. Das konnte und wollte er jetzt nicht aufs Spiel setzen. Niemand hatte bisher von seinem Geheimnis erfahren. Doch nun drohte durch Marie alles ans Licht zu kommen.
Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass Nürnberg weit genug von Bourges entfernt war. Immerhin war er ein angesehener Bürger, der seine Steuern bezahlte und darüber hinaus die Kirche durch großzügige Spenden unterstützte.
Marie würde im nächsten Sommer das fünfzehnte Lebensjahr erreichen und damit heiratsfähig sein. Und damit lag auch die Lösung seines Problems nahe. Er beschloss, ihr einen Ehemann weit weg von Bourges zu suchen
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