Die Bluterbin (German Edition)
wie Radulfus gerade aus der Krypta kam. Hatte der Teufel ihm etwa Flügel verliehen? Wie war es ihm nur so schnell gelungen, in die Kathedrale zu gelangen? Er musste den unterirdischen Gang benutzt haben, von dem Gregor zwar schon gehört, den er aber noch nie gesehen hatte.
Der Sakristan Gregor verbarg sich schnell hinter einer der Säulen.
Wie ein bösartiger Dämon bewegte Radulfus sich auf das Mädchen zu. Lautlos trat er neben sie. Er überragte sie um mehr als zwei Köpfe, und Bruder Gregor stockte der Atem, als der Herr der Finsternis seinen Schatten auf das Licht warf. Hastig schlug er das Kreuzzeichen.
Marie schrak aus ihren Gedanken, als sie den Bischof neben sich bemerkte. Sittsam senkte sie ihren Blick. Sie sah so vollkommen und unschuldig aus, und Radulfus betrachtete fasziniert ihre lichte Schönheit. Der Teufel musste sie geschaffen haben, um den Verstand der Männer zu verwirren. Ob König Ludwig ihr den Ring vielleicht nur geschenkt hatte, um ihrer Schönheit zu huldigen? Doch in diesem Moment erinnerte er sich wieder daran, wie sie vor ihm auf dem Boden gelegen hatte und von unsichtbaren Händen geschüttelt worden war. Nein, es musste einfach mehr dahinterstecken.
Marie stand wie erstarrt und hielt weiterhin ihren Blick gesenkt. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie glaubte, jeder könne es hören.
Radulfus beugte sich vor und brachte seinen Mund nah an ihr Ohr. Sein warmer Atem strich über Maries Gesicht.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr die Sünde der Eitelkeit begangen habt“, flüsterte er ihr leise zu. Marie fuhr herum und starrte ihn entsetzt an. Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch sie brachte kein einziges Wort über ihre Lippen.
„Wendet Euch vom Bösen ab, oder Ihr werdet bis in alle Ewigkeit in der Hölle schmoren“, setzte Radulfus ungerührt hinzu.
Ihr stummes Entsetzen löste seltsame Empfindungen in ihm aus und erregte ihn gleichzeitig. Sein Blut wurde heiß, als er sie plötzlich in Gedanken nackt vor sich sah, so wie Gott sie erschaffen hatte.
Da war es wieder, dieses schreckliche Gefühl der Zerrissenheit, das er längst überwunden geglaubt hatte. Sein Atem ging schwer, und ein fanatischer Glanz trat in seine Augen. Er musste es einfach wissen.
„Wer sind die Dämonen, die in Euch stecken? Seid Ihr gekommen, um mich zu versuchen?“
Die Flammen des Fegefeuers tanzten auf dem Grund ihrer dunklen, geheimnisvollen Augen. In seiner Aufregung hatte er gar nicht bemerkt, dass er bei seinen letzten Worten die Stimme erhoben hatte.
Die halblaut gemurmelten Gebete um ihn herum verstummten. Einige der Gläubigen drehten sich neugierig zu ihnen um.
Marie versuchte ihm zu antworten, vermochte es aber nicht. Sie wollte weglaufen, doch es gelang ihr nicht, sich zu bewegen.
Radulfus schien ihre Gedanken zu erahnen. „Versucht erst gar nicht, vor mir fortzulaufen“, drohte er ihr. „Ich habe bisher noch jeden zum Reden gebracht, und Ihr werdet keine Ausnahme machen.“
Marie fröstelte unter dem stechenden Blick seiner kalten Augen.
„Werdet Ihr nun endlich reden?“
Marie hatte solche Angst, dass ihr auf einmal die Tränen kamen. Stockend begann sie zu sprechen: „Ich weiß nicht, warum die schrecklichen Krämpfe über mich kommen, aber ich bete jeden Tag zu Gott, dass Er sie von mir nimmt.“
Radulfus bedachte sie mit einem mahnenden Blick.
„Was hat der König von Frankreich mit Euch zu schaffen? Habt Ihr ihn mit dem höllischen Glanz Eurer schwarzen Augen verzaubert?“
Maries Knie begannen zu zittern, sie schwankte. Ihre Stimme war nur noch ein Hauch. „Ich weiß es nicht, ich habe ihn nur einmal hier in der Kathedrale getroffen und seine Schmerzen gespürt.“
Ihre Stimme wurde flehend. „Bitte, Monsignore, lasst mich gehen, ich fürchte mich so.“
In diesem Moment beschloss Bruder Gregor, der das Geschehen mit wachsendem Unbehagen verfolgt hatte, dass es an der Zeit war, einzugreifen. Bemerkte Radulfus denn nicht, dass immer mehr Menschen ihn und die junge Frau beobachteten? Rasch setzte er sich in Bewegung. Heißer Zorn stieg in ihm hoch, als er in das Gesicht des völlig verstörten Mädchens sah. Er trat zu Radulfus und packte ihn hart an der Schulter.
Sofort wandte sich Radulfus von Marie ab und funkelte Bruder Gregor wütend an.
„Wie könnt Ihr es wagen“, stieß er heftig atmend hervor.
Bruder Gregor zog seinen Arm zurück. „Verzeiht mir, Monsignore, aber ich wollte Euch nur warnen, die Leute beobachten Euch bereits.“
Nach
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