Die Bluterbin (German Edition)
Haus der Machauts stehen.
Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht einmal die Stimme des Nachtwächters hörte, der Stunde um Stunde ausrief und die Bürger der Stadt in monotonem Singsang immer wieder ermahnte, auf das Feuer in ihrem Herd Acht zu geben.
Es wurde bereits hell, als er endlich vom Dach der Zehntscheune aus über die Mauer in die Heilige Stadt kletterte und sich an den Häusern der Kirchenleute vorbei leise zu seiner Unterkunft schlich. Erschöpft ließ er sich auf sein Bett fallen.
Am nächsten Morgen hatte er Mühe, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu Marie, und die Ahnung, dass sich irgendetwas Bedrohliches gegen sie zusammenbraute, verstärkte seine Unruhe von Sekunde zu Sekunde. Die Aufmerksamkeit der Mächtigen auf sich zu ziehen, war ebenso gefährlich wie ein Wasserstrudel, aus dem es kein Entkommen mehr gab, sobald man erst einmal in seinen Sog geraten war.
15
Bruder Gregor war als junger Mann aus Überzeugung in den Orden eingetreten, um sein Leben ganz in den Dienst Christi zu stellen. Nach einer schweren Zeit, in der er gegen die verschiedensten Versuchungen angekämpft hatte, hatte er aber zu seiner Enttäuschung feststellen müssen, dass bei den hohen Kirchenfürsten nur wenig christliches Verhalten zu finden war. Geld und Macht waren ihnen weitaus wichtiger als Demut und Gottesfurcht.
Doch er blieb mit seiner Sorge und Beklemmung so gut wie allein, da nur sehr wenige seiner Brüder seine Ansicht teilten, und so hatte er sich angewöhnt, seine Meinung für sich zu behalten. Durch seine Verschwiegenheit und seine ruhige Zuverlässigkeit hatte er es jedoch zu einer gewissen Beliebtheit bei ihnen gebracht und wurde mit Vorliebe für streng vertrauliche Botengänge und andere ähnliche Dinge eingesetzt.
Nach und nach war er so zu einem der engsten Vertrauten Radulfus aufgestiegen. Dabei hatte er ungewollt einen tieferen Einblick in dessen kranke Seele erhalten und erkannt, dass es nicht nur Kopfschmerzen waren, die dieser mit Opium und Wein zu betäuben suchte. Mehrmals schon hatte er mit angehört, wie Radulfus in seinem Wahn versucht hatte, mit Gott zu handeln, als hätte er einen gemeinen Krämer vor sich. Er war sogar noch weitergegangen und hatte wilde Flüche und Beschimpfungen gegen den Herrn ausgestoßen, weil er keine Antwort von Ihm erhalten hatte.
Und so betete Bruder Gregor voller Entsetzen Tag und Nacht zu Gott und flehte Ihn an, den Teufel wieder aus ihrer Mitte zu holen.
Radulfus hatte dem Sakristan den Auftrag erteilt, ihn auf der Stelle zu benachrichtigen, sobald Marie in der Kathedrale auftauchte. Seitdem bat Bruder Gregor jedes Mal, wenn er kontrollierte, ob noch genügend Wachskerzen vorhanden waren, die Heilige Mutter um Schutz für das Mädchen, das nicht ahnen konnte, was für eine gefährliche Aufmerksamkeit es auf sich gezogen hatte. Die Gerüchte, die ihm in letzter Zeit zu Ohren gekommen waren, beunruhigten ihn über alle Maßen. Zwei blutjunge Mädchen, beides uneheliche Töchter von Küchenmägden, waren spurlos verschwunden, und man flüsterte sich zu, dass sie zuletzt im Palast des Bischofs gesehen worden wären.
Zu Beginn der Vesper betrat Marie die Kathedrale. Bruder Gregor erkannte sie schon von Weitem. Er beobachtete sie eine Weile und überlegte, ob er es wagen konnte, dem Bischof ihre Anwesenheit zu verheimlichen. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich jedoch dagegen. Wenn er überhaupt etwas für die junge Frau tun konnte, dann nur, indem er das Vertrauen, welches Radulfus ihm entgegenbrachte, nicht enttäuschte, und stattdessen weiterhin ein wachsames Auge auf alles hatte, was dieser tat.
Er fand den Bischof an seinem Schreibpult. Vor ihm lagen einige Pergamentbogen, und in der rechten, ringgeschmückten Hand hielt er eine Feder, die er anscheinend jedoch noch nicht benutzt hatte.
„Sie ist jetzt da“, meldete ihm Bruder Gregor und fühlte sich plötzlich wie ein Verräter. Saulus konnte sich nicht schlimmer gefühlt haben, als er seinen Herrn und Meister verraten hatte.
Ohne seine Lippen zu bewegen, bat er Gott, ihm seine Sünden zu vergeben.
In die kalten Augen Radulfus trat ein lauernder Ausdruck, als er sich geschmeidig erhob.
„Ich brauche Euch nicht mehr, Ihr könnt gehen“, bemerkte er.
Bruder Gregor kam dieser Anweisung nur zu gerne nach. Erleichtert eilte er quer über den Kathedralenvorplatz, um das weitere Geschehen zu beobachten. Als er die Kathedrale betrat, sah er,
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