Die Bluterbin (German Edition)
Stimme zu lauschen und mehr von ihren Träumen und Gedanken zu erfahren. Erst als die Dämmerung sich unmerklich herabsenkte und die friedliche Landschaft in ein geheimnisvolles Grau tauchte, kehrten sie in die Stadt zurück.
Robert begleitete sie nach Hause. Es war jetzt fast dunkel. In den Häusern wurden die ersten Talglampen entzündet, deren Licht durch die schmalen Fenster aber nur schwach nach draußen drang.
„Es wäre besser, wenn Ihr die Kathedrale eine Weile meiden und dem Bischof aus dem Wege gehen würdet“, warnte er sie.
Ein Schatten glitt über Maries Gesicht.
„Dann werde ich Euch nicht mehr sehen“, erwiderte sie traurig.
„Wir könnten uns woanders treffen“, schlug er vor. „Vielleicht am Brunnen oder besser am Salzmarkt, dort sind weniger Menschen.“
Marie strahlte ihn an.
„Dann sehen wir uns morgen, zur fünften Stunde.“ Sie winkte ihm noch einmal zu, bevor sie im Haus verschwand.
Fröhlich vor sich hin pfeifend schlenderte Robert zurück in die Heilige Stadt.
Im Dormitorium erwartete ihn eine Nachricht von seinem Vater, die ihn schmerzhaft in die Wirklichkeit zurückbrachte. Guido de Forez teilte ihm mit knappen Worten mit, dass seine Braut Philippa, die vierte Tochter des Grafen von Ponthieu, am Sonntag nach Dreikönig in der väterlichen Burg eintreffen würde. Bis dahin würde er sein Quadrivium beendet haben und sich endgültig von Marie trennen müssen. Und auch Marie würde nach dem Willen ihrer Eltern im Frühjahr vermählt werden.
Der Gedanke, sie in den Händen eines anderen Mannes zu wissen, war ihm unerträglich. Zwar versuchte er, sich damit zu trösten, dass dieser Tag noch weit entfernt war, doch es gelang ihm nicht.
16
Als Marie weder am nächsten noch am übernächsten Tag in der Kathedrale erschien, sandte Radulfus einen seiner Spione mit dem Auftrag aus, das Haus der Machauts zu überwachen. Immer wieder erschien das Bild der jungen Frau vor seinen Augen. Ihre schon fast überirdische Unschuld berührte sein kaltes Herz und rief ihm schmerzhaft seine furchtbaren Sünden ins Bewusstsein. Der Gedanke an Marie ließ sogar alle seine Ränke gegen die Stadtobrigkeit in den Hintergrund treten und ihn seinen Ärger über den Beistandspakt der Kaufleute und Aristokraten vergessen, die sich immer dann einig waren, wenn es darum ging, die Macht der Kirche zu untergraben.
Mit finsterer Miene schlich er durch die Kathedrale und wartete darauf, dass Marie erschien.
Schließlich erfuhr er von seinem Spion, dass sich Marie jeden Tag zur fünften Stunde mit einem jungen Edelmann am Salzmarkt traf. Ob er sich so in ihr getäuscht hatte? War sie doch nur eine Hure wie alle anderen? Eine heiße Hündin, die voll sündiger Leidenschaft der Umarmung eines Mannes entgegenfieberte?
Rasch tauschte er seinen pelzverbrämten Umhang gegen einen schlichten braunen ein, der weniger Aufsehen erregen würde, und verbarg das schwere silberne Kreuz unter seiner Kutte. Er sah jetzt aus wie ein einfacher Mönch und gelangte auf diese Weise unerkannt zum Salzmarkt.
Robert war noch nicht erschienen, und Marie betrachtete das geschäftige Treiben um sich herum. Jeder Haushalt brauchte Salz, aber man konnte sich gut einen Vorrat davon anlegen und musste es nicht täglich einkaufen gehen, weshalb es an den Salzständen auch wesentlich ruhiger zuging als vor den Obst- und Fleischständen.
Eine Weile lauschte sie dem metallischen Hämmern der Schmiede und Pfannenschläger, das bis hierher drang und vermischt mit dem an- und abschwellenden Stimmengewirr eine eigenartige Melodie ergab.
Da legte sich auf einmal unvermittelt ein Schatten, der von einem eisigen Hauch begleitet wurde, auf Marie. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch. Noch bevor sie sich umwandte, wusste sie bereits, wem der Schatten gehörte.
Sie wurde steif vor Schreck. Verzweifelt richtete sie ihren Blick auf die Bäckergasse, die auf den Marktplatz mündete, und hoffte, Robert dort entdecken zu können. Er war sicher schon unterwegs und würde jeden Moment auftauchen.
Ein Ochsenkarren ratterte vorbei und versperrte ihr die Sicht. Ihm folgten eine Schar schnatternder Mägde und weitere Fuhrwerke.
Sie konnte nicht ahnen, dass Radulfus Bruder Gregor befohlen hatte, Robert aufzuhalten.
Radulfus’ Blick glitt über das Mädchen, das starr und weiß wie frisch gefallener Schnee vor ihm stand. Das blaue Samtkleid unterstrich ihre madonnenhafte Erscheinung und ließ sein Herz schneller schlagen. Der schmale bronzene Reif auf
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