Die Kolonie
Versuchskaninchen
Dieser Ort war als Refugium für Schriftsteller gedacht.
Hier hatte man ungestört leben sollen.
Eine abgelegene Schriftstellerkolonie, wo wir arbeiten konnten,
geleitet von einem alten, sehr alten, sterbenden Mann namens Whittier,
bis Schluss damit war. Und wir sollten Gedichte schreiben. Schöne Gedichte.
Wir, seine begabten Schüler,
für drei Monate aus der gewöhnlichen Welt ausgesperrt.
Und wir redeten einander mit »Kuppler« an. Und »Missing Link«.
Oder »Mutter Natur«. Alberne Bezeichnungen. Frei assoziierte Namen.
Genau so, wie ihr - als ihr klein wart - Namen für die Pflanzen
und Tiere in eurer Welt erfunden habt. Ihr nanntet die Pfingstrose - von Nektar
klebrig und von Ameisen überwimmelt - die »Ameisenblume«.
Ihr nanntet Collies: Lassie . Aber noch heute nennt ihr jemanden »dieser Einbeinige da«.
Oder: »Du weißt schon, die Schwarze ...«
Wir nannten einander: »Graf Schandmaul« Oder »Schwester Vigilante«
Die Namen hatten wir verdient, sie kamen aus unseren Geschichten. Die
Namen, die wir einander gaben,
kamen aus unserem Leben, nicht aus unseren Familien:
»Lady Tramp«
»Agent Plaudertasche«
Namen, die aus unseren Sünden resultierten, nicht aus unserer Arbeit:
»Sankt Prolaps«
Und »Herzog der Vandalen«.
Sie resultierten aus unseren Fehlern und Verbrechen. Das Gegenteil
von Superheldennamen.
Alberne Namen für echte Menschen. Als wenn man eine Puppe aufschneidet
und findet darin:
echte Eingeweide, echte Lungen, ein schlagendes Herz, Blut.
Jede Menge warmes, klebriges Blut.
Und wir sollten Kurzgeschichten schreiben. Komische Kurzgeschichten.
Zu viele von uns, für einen ganzen Frühling, Sommer, Winter, Herbst –
für eine ganze Jahreszeit - aus der Welt ausgesperrt.
Es ist egal, wer wir als Menschen waren, dem alten Mr. Whittier ist es egal.
Aber das hat er uns zunächst verschwiegen.
Für Mr. Whittier waren wir Labortiere. Ein Experiment.
Aber das wussten wir nicht.
Nein, das war nur ein Refugium für Schriftsteller, bis es zu spät für uns war,
um noch irgendetwas anderes zu sein
als seine Opfer.
1
Als der Bus an der Kreuzung hält, wo Genossin Snarky hatte warten wollen, steht sie dort in einer Flakweste - dunkel oliv und ausgebeulter Tarnhose, die Aufschläge hochgerollt, darunter Infanteriestiefel. Zu beiden Seiten ein Koffer. Mit der schwarzen, straff über den Schädel gezogenen Baskenmütze könnte sie sonst wer sein.
»Es war ausgemacht...«, sagt Sankt Prolaps in das Mikrofon, das über seinem Steuerrad hängt.
Und Genossin Snarky sagt: »Gut.« Sie bückt sieh und schnallt einen Gepäckanhänger von einem der Koffer ab. Genossin Snarky stopft den Anhänger in ihre olivgrüne Tasche, nimmt den zweiten Koffer und steigt in den Bus. Der andere Koffer bleibt auf dem Bordstein, verlassen, verwaist, allein, und Genossin Snarky setzt sich und sagt: »Okay.«
Sie sagt: »Fahr.«
Wir alle hinterließen an diesem Morgen Nachrichten. Vor Sonnenaufgang. Schlichen auf Zehenspitzen mit unseren Koffern dunkle Treppen hinunter, dann durch dunkle Straßen, Müllwagen unsere einzige Gesellschaft. Die Sonne haben wir nicht aufgehen sehen.
Neben Genossin Snarky saß Graf Schandmaul und schrieb in einen Notizblock, seine Augen huschten hin und her zwischen ihr und seinem Kugelschreiber.
Und Genossin Snarky beugt sich zur Seite und sagt: »Meine Augen sind grün, nicht braun, und mein Haar ist von Natur aus so kastanienbraun.« Sie sieht, er schreibt grün, und sagt: »Und ich habe ein Tattoo auf der Arschbacke, eine kleine rote Rose.« Ihr Blick senkt sich auf das silberne Diktiergerät in seiner Hemdtasche, das winzige Mikrofon daran, und sie sagt: »Schreib nicht: Haare gefärbt. Frauen tönen ihr Haar oder hellen es auf.«
Neben ihnen sitzt Mr. Whittier und hält sich mit zitternden fleckigen Händen am verchromten Rahmen seines zusammengeklappten Rollstuhls fest. Neben ihm sitzt Mrs. Clark, ihre Brüste so groß und schwer, dass sie beinah in ihrem Schoß ruhen.
Genossin Snarky wirft einen Blick darauf, lehnt sich an den grauen Flanellärmel des Grafen Schandmaul und sagt: »Reine Zierde, nehme ich an. Und ohne Nährwert...«
Das war der Tag, an dem wir unseren letzten Sonnenaufgang verpassten.
An der nächsten dunklen Kreuzung, wo Schwester Vigilante wartet, hält sie ihre dicke schwarze Armbanduhr hoch und sagt: »Wir hatten vier Uhr fünfunddreißig abgemacht.« Sie tippt mit der anderen Hand auf das Uhrglas und
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