Die Blutgraefin
nicht mehr so unerträglich wie oben im Haus. Wände und Decke hatten einen äußerst
stabilen Eindruck gemacht. Andrej war sicher, dass der Tunnel selbst
dann standhalten würde, wenn das gesamte Gebäude über ihnen zusammenbrach.
Er ging einige Schritte weiter, musste dann aber stehen bleiben, als
Stanik vor ihm ins Stolpern geriet und keuchend gegen die Wand
sank. Der Junge war am Ende seiner Kräfte. Er musste vor Angst
halb wahnsinnig sein und litt vermutlich unerträgliche Schmerzen.
Dennoch war das Erste, was er nach einigen Augenblicken atemlos
hervorwürgte: »Elenja? Wo ist… Elenja?«
»Wahrscheinlich irgendwo hier unten«, antwortete Andrej zögernd.
»Sie kannte diesen Keller. Ich bin sicher, dass Maria und sie hierher
geflohen sind.«
Stanik bewegte sich neben ihm in der Dunkelheit. Er versuchte etwas zu sagen, brachte aber nur ein qualvolles Würgen zu Stande, das
in ein noch qualvolleres Husten überging. Dann konnte Andrej hören, wie der Junge in die Knie brach und sich lang anhaltend übergab.
»Warte hier«, sagte er. »Ich sehe, ob ich eine Lampe finde oder eine Fackel.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, streckte er die Arme aus und tastete sich in der Dunkelheit die Wand entlang. Schon nach wenigen
Schritten stieß er auf die Tür, die er zuvor gesehen hatte. Andrej
machte sich nicht die Mühe, nach einem Riegel oder Griff zu suchen,
sondern trat das morsche Holz kurzerhand ein und tastete sich mit
vorgestreckten Armen in den dahinter liegenden Raum. Er stieß gegen einen Korb, der umfiel und seinen Inhalt auf dem Boden verstreute. Dann ertastete er ein Regal, auf dessen Brettern sich Körbe,
Säcke und Tonkrüge stapelten. Schließlich fand er genau das, worauf
er gehofft hatte. Auf einem Brett gleich neben der Tür, genau in der
Höhe, in der ein Mädchen von Elenjas Größe sie ablegen mochte, um
sie auch im Dunkeln schnell zu finden, lag eine Anzahl Wachskerzen. Hastig griff er in die Tasche, grub die Feuersteine aus, die er
immer bei sich trug. Fahrig wie er war, brauchte er fünf oder sechs
Versuche, bevor es ihm gelang, einen Funken zu schlagen, der den
Docht in Brand setzte. Eine winzige, gelbe Flammen glomm auf.
Andrej wollte sich schon umdrehen und die Kammer wieder verlassen, überlegte es sich aber anders und hob die Kerze höher, um sich
den Raum genauer anzusehen.
Im blassen Licht der kleinen Flamme war es schwer, Einzelheiten
zu erkennen. Es war die Vorratskammer, von der Elenja gesprochen
hatte, aber sie entsprach ganz und gar nicht dem, was er sich unter
diesem Begriff vorgestellt hatte. Der Raum war klein und fensterlos,
drei der vier Wände waren hinter deckenhohen, roh zusammengezimmerten Regalen verborgen, deren Bretter bis zum Überquellen
vollgestopft waren. Fast eine Minute lang stand Andrej reglos da und
starrte ungläubig auf die Berge von verschimmeltem Brot, verfaultem Gemüse und schrumpeligem, verdorbenem Obst, auf verfaultes,
matschiges Fleisch und andere, vor vielen Jahren ungenießbar gewordene Lebensmittel, die er nicht einmal mehr erkennen konnte.
Auf dem Boden lag eine dicke Staubschicht. Eigentlich hätte der
Gestank dort drinnen so erbärmlich sein müssen, dass er einem den
Atem nahm. Alles, was Andrej jedoch roch, war ein leicht süßlicher
Odem, der bewies, wie lange all diese Dinge schon dort lagern mussten.
Einzig auf dem Regal gleich neben der Tür, auf dem er die Kerzen
gefunden hatte, befanden sich einige wenige Lebensmittel, die so
aussahen, als könne man sie noch ungefährdet, wenn auch gewiss
nicht mit Appetit, verzehren: ein Laib Brot, ein kleiner Korb mit getrocknetem Obst und Gemüse und ein Krug mit Wein, auf dessen
Oberfläche sich eine dünne Staubschicht gebildet hatte.
»Andrej?«, drang Staniks Stimme von draußen in seine Gedanken.
»Es ist alles in Ordnung«, antwortete Andrej hastig. »Ich komme.«
Er steckte die restlichen Kerzen ein, drehte sich um und hielt schützend die flache Hand vor die Flamme, damit sie nicht durch den
Luftzug seiner Bewegung erlosch. Stanik hatte sich im Dunkeln weiter an die Tür herangetastet und fuhr sich erschöpft mit dem Handrücken über den Mund, als Andrej herauskam. Er erschrak, als er den
Jungen sah. Staniks Haar war fast vollkommen versengt, auch seine
Kleider wiesen unzählige Brandlöcher auf. Er hatte sich üble
Verbrennungen an den Händen und im Gesicht zugezogen und würde
vermutlich ein paar hässliche Narben zurückbehalten, die ihn Zeit
seines
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