Die Blutgraefin
von dem er hoffte, dass es nicht zu einer Furcht einflößenden Grimasse geriet, sagte er: »Stanik, bitte! Es ist nicht so, wie du
glaubst. Ich gebe zu, es gibt ein paar Dinge, die ich dir verschwiegen
habe, aber ich bin weder dein Feind noch vom Teufel oder irgendeinem anderen Dämon besessen. Ich werde dir alles erklären, aber jetzt
sollten wir machen, dass wir hier wegkommen.« Er deutete in die
Richtung des Schlosses. »Elenja wartet auf dich. Du willst doch sicher nicht, dass sie sich Sorgen um dich macht, oder?«
Die letzte Frage klang in seinen Ohren albern, doch in seiner Verzweiflung fiel ihm nichts anderes ein. Die bloße Erwähnung des
Mädchens reichte aus, um den Jungen in die Wirklichkeit zurückzuholen.
»Elenja?«, murmelte er. »Was weißt du von ihr? Was hast du mit
ihr gemacht?«
»Nichts«, antwortete Andrej. »Sie ist auf dem Schloss. Ihr fehlt
nichts. Wenn du endlich damit aufhörst, dich wie ein störrisches
Kind aufzuführen, dann bringe ich dich zu ihr.«
Stanik glaubte ihm offensichtlich kein Wort. Andrej an seiner Stelle
hätte es vermutlich auch nicht getan. Er konnte nicht anders, als dem
Jungen widerwillig Respekt zu zollen. Was er in der letzten Stunde
gesehen und erlebt hatte, ging weit über das hinaus, was die meisten
anderen Menschen an seiner Stelle ertragen hätten, ohne den
Verstand zu verlieren.
Andrej stand auf und streckte Stanik erneut seine Hand entgegen.
Der ließ noch einige Augenblicke verstreichen und sah Andrej mit
einem Blick an, in dem sich Furcht und Misstrauen mit allmählich
aufkeimender Hoffnung mischten. Dann stemmte er sich umständlich
in die Höhe. Sein Blick irrte zwischen Andrejs Gesicht und jenem
Punkt am Waldrand, an dem das Ungeheuer verschwunden war, hin
und her. Er musste ein paar Mal heftig schlucken, bevor er einen
weiteren Satz herausbrachte.
»Aber wenn du nicht zu ihr gehörst, was… was bist du dann?«
»Ich bin nicht dein Feind«, sagte Andrej. »So wenig wie Gräfin
Berthold.«
Wie erwartet, reichten seine Worte nicht aus, das Misstrauen des
Jungen zu zerstreuen. Statt weiterzusprechen, ging Andrej mit wenigen schnellen Schritten dorthin, wo Staniks Dolch im Schnee lag,
hob die Waffe auf und gab sie ihrem Besitzer zurück.
Stanik griff instinktiv nach dem Dolch, drehte ihn aber so verständnislos in der Hand, als hätte er nicht die geringste Ahnung, wozu ein
solcher Gegenstand gut sein sollte. Dann weiteten sich seine Augen,
sein Blick löste sich von der Dolchklinge und blieb an Andrejs Brust
hängen. »Aber du…«, stammelte er. »Ich habe dich verletzt. Ich habe
dich…«
»… ziemlich überrascht, ja«, fiel ihm Andrej ins Wort. »Du warst
schneller, als ich erwartet hatte. Manchmal ist so ein Kettenhemd
doch ganz nützlich, nicht wahr? Es ist unbequem und schwer, und
ich frage mich oft genug, warum ich mich überhaupt damit herumplage. Heute hat es mir wohl das Leben gerettet.«
Sicherlich wusste Stanik spätestens seit seinem Angriff, dass Andrej kein Kettenhemd unter dem Wams trug. Aber in diesem Moment
spielte das keine Rolle, weil Andrej ihm eine Erklärung gegeben hatte, an die er glauben konnte. Der Junge sah ihn kurz unentschlossen
an, dann schob er das Messer in die schmale Lederscheide an seinem
Gürtel zurück, und Andrej atmete auf.
»Kannst du laufen?«, fragte er.
Stanik warf einen kurzen, bedauernden Blick auf den Kadaver seines Pferdes. »Das werde ich wohl müssen«, sagte er. »Elenja ist im
Schloss, sagst du?«
»Bei Maria, ja«, bestätigte Andrej. Er gab es auf, sie Gräfin Berthold zu nennen. Stanik war weder blind noch taub, und erst recht
nicht dumm.
»Dann sollten wir uns beeilen«, sagte Stanik. »Mein Vater und die
Männer aus dem Dorf sind unterwegs dorthin.«
Lange bevor sie aus dem Wald herausgetreten waren, hatte Andrej
schon durchdringenden Brandgeruch wahrgenommen. Über dem
Schloss leuchtete der Himmel in weitem Umkreis in einem düsteren,
drohenden Rot. Flammen schlugen hoch aus dem brennenden Dachstuhl des Wohnhauses. Obwohl es wieder zu schneien begonnen hatte, tanzten Millionen und Abermillionen winziger roter Funken über
dem Hof in der Luft. Andrej konnte die trockene Hitze selbst über
die große Entfernung hinweg spüren. Maria hatte den Kampf gegen
das Feuer verloren.
Das letzte Stück vom Waldrand bis zum Tor hatten sie laufend zurückgelegt. Trotz seiner Erschöpfung hatte Stanik dabei ein so rasches Tempo vorgelegt, dass Andrej kaum mithalten konnte.
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