Die Blutgraefin
Andrej mit einem unwilligen Grunzen die Augen öffnete. Die letzten Visionen des paradiesischen Lichts zerplatzten und wichen einem weitaus irdischeren Bild:
Andrej blickte in ein breitflächiges Gesicht, das die Farbe von sorgsam poliertem Ebenholz hatte und dessen Anblick alle die Menschen
Lügen strafte, die behaupteten, dass dicke Männer immer auch ein
wenig gutmütig wirkten. Abu Dun wirkte so wenig gutmütig, wie das
breite Grinsen, mit dem er sein strahlend weißes Gebiss entblößte,
auch nur die geringste Spur von Humor enthielt. Andrej hob die
Hand und ergriff rasch Abu Duns Arm, bevor dieser noch einmal und
vermutlich noch härter zuschlagen konnte. Seine Wange brannte
schon jetzt wie Feuer.
»Lass das!«, murrte er. »Du weißt, dass es nichts nutzt. Mit Schlägen hat man noch nie jemanden wach bekommen.«
»Ich weiß«, antwortete der Nubier, und sein Grinsen wurde noch
breiter. »Aber es macht Spaß, und außerdem kannst du dich nicht
wehren.«
Andrej versetzte Abu Duns Arm einen derben Stoß, stemmte sich
mit einer mühevollen Bewegung auf beide Ellbogen hoch und
schenkte ihm noch einen giftigen Blick, bevor er sich vollständig
aufrichtete und umsah.
Überrascht zog er die Augenbrauen zusammen. Dass sie nicht mehr
im Wald und unter freiem Himmel waren, hatte er schon im Moment
seines Erwachens bemerkt. Es war kalt, aber lange nicht so eisig, wie
er es in Erinnerung hatte. Außerdem war es dunkel. Er lag auf einem
schäbigen Bett, das in einem mit allem möglichen Gerümpel und
Unrat vollgestopften Dachboden stand, durch dessen Löcher und
Ritzen nur sehr wenig grau gefärbtes Licht fiel, es dafür aber um so
erbärmlicher zog.
»Ulrics Haus?«, murmelte er verwirrt.
Abu Dun nickte so heftig, dass sich das Ende seines schwarzen
Turbantuches löste und ihm ins Gesicht fiel. Er stopfte es nachlässig
zurück. »Diesmal haben sie uns beide gefunden und hergebracht«,
antwortete er.
»Ulric und seine Söhne?«, vergewisserte sich Andrej. »Wir waren
fast zwei Stunden von hier entfernt.«
Abu Dun hob scheinbar gleichmütig die Schultern. »Vielleicht
streifen sie ständig durch die Wälder und suchen nach Leichen, die
sie ausplündern können«, sagte er. »Manche Menschen gehen den
sonderbarsten Beschäftigungen nach.«
Andrej blieb ernst. »Hältst du das für einen Zufall?«
»Nein«, antwortete Abu Dun. »Und es war auch kein Scherz.« Er
wies mit dem Kopf auf das Sammelsurium von Kisten, Fässern, Säcken und Bündeln, das einen Großteil des Dachbodens ausfüllte. »Ich
habe mich ein wenig umgesehen, als du geschlafen hast. Für den
Dachboden eines einfachen Bauern ist das hier ein seltsamer Ort.
Jede Menge Krempel.«
Andrej warf ebenfalls einen fragenden Blick in die Runde. »Und
was genau verstehst du unter… Krempel?«, wollte er wissen.
»Wenn du mich fragst, ist mindestens die Hälfte davon zusammengestohlen und geraubt«, antwortete Abu Dun. »Unsere neuen Freunde sind Diebe, wenn nicht Schlimmeres.«
»Deine neuen Freunde«, verbesserte ihn Andrej.
Der Nubier tat diesen Einwand mit einem Schulterzucken ab.
»Immerhin haben sie uns beiden das Leben gerettet«, stellte er fest.
»Oder waren zumindest der Meinung, es zu tun.«
Andrej sah ihn fragend an.
»Stanik hat uns gefunden und hierher gebracht«, erklärte Abu Dun.
»Und, nein, natürlich war es kein Zufall. Wahrscheinlich ist er uns
nachgeschlichen, um sich davon zu überzeugen, dass wir auch wirklich verschwinden.«
»Oder um einen passenden Ort für einen Hinterhalt auszusuchen?«
»Das hätten sie vorletzte Nacht bequemer haben können, wenn sie
gewollt hätten«, erwiderte Abu Dun. »Außerdem - was hätte Stanik
daran hindern sollen, uns einfach die Kehlen durchzuschneiden und
auszurauben, als wir hilflos im Schnee lagen?«
Darauf wusste Andrej keine Antwort. Und es war auch nicht das,
was ihn in diesem Moment wirklich bewegte. Er sah Abu Dun kurz
durchdringend an, dann schwang er die Beine von der flachen Liege,
die unter seinem Gewicht hörbar ächzte, als wollte sie jeden Moment
zusammenbrechen. Auch diese Bewegung kostete ihn eine größere
Anstrengung, als er erwartet hatte. Verwirrt ließ er sich, erst halb
aufgestanden, wieder zurücksinken und runzelte die Stirn, als er in
Abu Duns Gesicht schon wieder ein breites, schadenfrohes Grinsen
erblickte.
»Mach dir keine Sorgen«, feixte der Nubier. »Das vergeht. Jedenfalls war es bei mir so. Bald fühlst du dich wie neugeboren.«
»Was
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