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Die Blutgraefin

Die Blutgraefin

Titel: Die Blutgraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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hielt das Kleid in das schwache Licht des Kaminfeuers. Der
Stoff war uralt. Der Brokat musste zweifellos einmal kostbar und
prachtvoll gewesen sein, doch diese Zeiten waren schon sehr lange
vorbei. Was er in Händen hielt, war wenig mehr als ein Fetzen, selbst
für einen Bettler zu schäbig. Doch als Maria dieses Kleid getragen
hatte, war es ihm wie die prachtvolle Robe einer Königin erschienen.
    Verwirrt ließ Andrej das Kleid sinken und unterzog den Raum einer
zweiten, gründlicheren Musterung. Er war peinlich berührt, als er
feststellte, dass jemand den Tisch abgeräumt und sauber abgewischt
hatte, während er schlief, tröstete sich aber mit dem Gedanken, dass
es möglicherweise Maria gewesen war. Darüber hinaus gab es in
dem Zimmer nicht viel Interessantes zu sehen. Der Stuhl neben dem
Kamin, der Tisch, die Stühle und eine schwere, geschnitzte Bauerntruhe bildeten die gesamte Einrichtung. Es gab ein einziges Fenster,
das als Schutz vor Wind und Kälte sorgfältig mit Brettern vernagelt
worden war. Andrej bemerkte eine zweite, niedrige Tür auf der anderen Seite. Vielleicht führte sie in Marias Schlafgemach. Möglicherweise war es ihr zu unbequem geworden, auf dem Boden zu schlafen, und sie hatte sich dorthin zurückgezogen.
    Andrej klopfte zweimal und ließ eine geraume Zeitspanne verstreichen, bevor er den Riegel zurückschob und gebückt durch die niedrige Tür trat. Dahinter lag kein Schlafzimmer, und Maria war auch
nicht dort.
    Der Geruch ließ ihn mitten in der Bewegung erstarren. Es war so
dunkel, dass er Mühe hatte, mehr als nur verschwommene Umrisse
wahrzunehmen. Dafür jedoch arbeiteten seine anderen Sinne mit
umso größerer Schärfe. Blutgeruch erfüllte die Luft. Selbst ein normaler, sterblicher Mensch hätte ihn wahrgenommen, so überwältigend war er. Andrej empfand es wie lautlose Schmerzensschreie, die
unaufhörlich in seinem Inneren widerhallten. In diesem Raum war
vor nicht allzu langer Zeit Blut vergossen worden, viel Blut.
    Aufs Höchste alarmiert, duckte sich Andrej. Zugleich hob er die
Arme, um sich verteidigen zu können, falls er angegriffen werden
sollte, obwohl er wusste, dass das nicht geschehen würde. Der Raum
war vollkommen leer. Niemand war dort. Dennoch blieb er auf der
Hut, während sich seine Augen nur quälend langsam an den schwachen Lichtschimmer gewöhnten, der durch die offen stehende Tür
hereinfiel und das fensterlose Zimmer nur unzureichend erhellte.
Wenige Tage zuvor hätte er anders reagiert, aber da hatte er auch
noch nicht geahnt, dass es zumindest einen Menschen auf der Welt
gab, dessen Anwesenheit er nicht spüren konnte.
    Blanche war allerdings nicht dort. Der Raum bot auch nicht genug
Platz, um sich darin zu verstecken. Den größten Teil des Platzes
nahm eine große, auf metallenen Löwenfüßen stehende Badewanne
ein. Sie enthielt jedoch kein Wasser. Die dunkle Flüssigkeit, die zwei
Finger hoch ihren Boden bedeckte, verströmte einen so durchdringenden Geruch, dass es nicht den mindesten Zweifel gab: Es war
Blut.
    Der intensive Geruch überwältigte Andrej. Er reagierte darauf wie
zwei Tage zuvor im Wald: Das Ungeheuer in ihm erwachte schlagartig und sprang ihn erbarmungslos und mit verheerender Kraft an.
Sein ganzes Denken, Fühlen und Streben drehte sich nur noch um
Blut. Es drohte ihn in einen schwarzen Schlund hinabzuziehen, in
einen Abgrund aus Gier, Mordlust und reiner Zerstörungswut.
    Mit äußerster Anstrengung gelang es Andrej, seiner Gefühle Herr
zu werden und das Ungeheuer, das er niemals endgültig würde besiegen können, wieder in seinen Kerker zurückzutreiben. Zitternd,
die Zähne so fest zusammengebissen, dass es schmerzte, die Hände
mit aller Gewalt zu Fäusten geballt, stand er minutenlang da, bis er
sich wieder so weit in der Gewalt hatte, dass er es wagen konnte, die
Augen zu öffnen.
    Er zwang sich, den Raum ein zweites Mal in Augenschein zu nehmen. Vielleicht hatten ihm seine Nerven einen bösen Streich gespielt.
Aber er hatte sich nicht getäuscht. Die Wanne war voller Blut.
Menschlichem Blut.
    Aufs Äußerste beunruhigt, verließ Andrej den Raum. Er schloss die
Tür sorgfältig hinter sich, damit niemand merkte, dass er jenen Raum
betreten hatte. Dann unterzog er das Kaminzimmer einer gründlichen
Untersuchung, ohne etwas Ungewöhnliches zu entdecken, bis auf
einen sonderbar muffigen Geruch. Schließlich schlüpfte er in seine
Stiefel und warf sich den Mantel um die Schultern. Als er

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