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Die Blutgraefin

Die Blutgraefin

Titel: Die Blutgraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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mancher
Priester, den er kannte, hätte seinen rechten Arm dafür gegeben, seine Kirche mit einem solchen Kunstwerk zieren zu können.
»Ja, es ist unser ganzer Stolz«, antwortete Lorenz. Wieder leuchteten seine Augen auf. Dann jedoch wandte er sich zur Seite und Andrej wurde klar, dass er ihn keineswegs dort hereingeführt hatte, um
ihm seinen Schatz zu zeigen. Die beiden vorderen Bankreihen waren
nicht leer. Auf dem eisverkrusteten Holz lagen fünf große, in Tücher
eingedrehte Bündel.
»Sie sind immer noch hier?«, entfuhr es Andrej. »Der einzige Ort,
an dem sie sicher sind«, antwortete Lorenz. »Der Boden ist zu hart,
um ein Grab auszuheben, und ich fürchte, dass sich wilde Tiere an
ihnen vergehen würden, wenn wir sie einfach draußen liegen ließen.«
Er blieb vor einem der Bündel stehen. Andrej sah, wie es in seinem
Gesicht zu arbeiten begann. Es kostete ihn deutliche Überwindung
sich vorzubeugen und das steif gefrorene Tuch zur Seite zu schlagen.
Das zerstörte Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war das eines jungen Mannes, der die zwanzig noch nicht erreicht haben konnte. Lorenz schlug mit der einen Hand das Kreuzzeichen über Stirn
und Brust, fuhr mit der anderen jedoch gleichzeitig fort, das Tuch
aufzubiegen, das so hart gefroren war, dass es knisterte und Andrej
damit rechnete, es unter seinen Fingern zerbrechen zu sehen. Kopf
und Schultern des Mannes wurden sichtbar, und Andrejs Magen zog
sich heftig zusammen, als er auch darauf die Spuren schlimmer Verletzungen erblickte. Der Geistliche nahm auch die andere Hand zu
Hilfe, um den Toten so herumzudrehen, dass die winzigen runden
Wunden an der linken Seite seines Halses zu erkennen waren.
»Welches Geschöpf tut so etwas, Andrej?«, fragte er.
Etwas an der Art, wie er diese Frage stellte, rüttelte Andrej auf.
Sein Ton hatte sich verändert. Er klang noch immer freundlich und
gutmütig, und doch war etwas darin, das er bisher sorgsam unterdrückt hatte.
»Wie kommt Ihr darauf, dass…«
Lorenz sah aus besorgten Augen zu ihm auf. »Wir sind allein, Andrej«, unterbrach er ihn. »Ihr müsst mir nichts vormachen. Ihr wisst,
wer das getan hat.«
»So?«, fragte Andrej unbehaglich.
»Ich habe Euch gestern beobachtet«, antwortete Lorenz. »Ihr habt
sofort gewusst, was diese Wunden zu bedeuten haben. Ebenso wie
Euer Freund. Die anderen haben es nicht bemerkt…« Er hob die
Hand, als Andrej antworten wollte, und richtete sich wieder auf, wodurch er ihn plötzlich um fast eine Handspanne überragte. Andrej
war nicht sicher, ob der Geistliche seine beeindruckende Größe bewusst einsetzte. »Lasst Euch nicht von meinem Gewand täuschen,
Andrej, oder dem Umstand, dass wir hier so weit weg von den großen Städten der modernen Welt sind. Ich glaube nicht an Hexerei,
und es ist mir vollkommen gleichgültig, wer Abu Dun und Ihr wirklich seid. Hier geschieht etwas, das die Menschen meines Dorfs in
Gefahr bringt. Irgendetwas tötet sie, und Ihr wisst, was es ist.«
»Selbst, wenn das so wäre, wie kommt Ihr darauf, dass wir Euch
helfen könnten?«
Lorenz’ Miene verdüsterte sich. Andrej rechnete fest damit, dass er
wütend werden würde, dann aber sagte er nur sanft: »Weil ich Euch
darum bitte, Andrej. Und weil ich mir nicht vorstellen kann, dass
Euch das Schicksal der Menschen hier vollkommen gleichgültig ist.«
Um Zeit zu gewinnen, machte Andrej einen Schritt an dem Geistlichen vorbei und ließ sich nun ebenfalls in die Hocke sinken, als müsse er die Wunden noch einmal genauer in Augenschein nehmen. Er
wusste, welches Raubtier seine Opfer mit solchen Wunden zeichnete.
Er glaubte sogar sicher zu wissen, wer dieses Raubtier war. Dennoch
ließ er noch eine geraume Weile verstreichen, bevor er zögernd antwortete. »Ihr habt Recht. Ich habe so etwas schon einmal gesehen.
Aber ich bin nicht sicher, ob wir Euch helfen können.«
»Ich bitte nicht für mich, Andrej«, antwortete Lorenz. »Ich bitte für
die Menschen in diesem Dorf. Es sind gute Menschen. Sie haben
niemandem etwas getan. Keiner hier hat es verdient, so zu sterben.«
»Seit wann fragt das Schicksal danach, was jemand verdient?«,
fragte Andrej. Er stand auf. »Wann gab es den ersten Toten?«
Lorenz beugte sich vor und zog das Tuch wieder über das Gesicht
des Toten, bevor er antwortete: »Vor vier Monaten«, sagte er. »Vielleicht.«
»Vielleicht?«
Lorenz drehte sich halb herum und rieb die Hände aneinander, um
die Kälte aus seinen klammen Fingern zu

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