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Die Blutgraefin

Die Blutgraefin

Titel: Die Blutgraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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hereindrang. Dann fiel ihm doch etwas auf: Es war kein Geräusch, sondern ein Geruch, so schwach, dass er selbst ihm beinahe entgangen
wäre, und so fremd und düster, dass er ihn nicht einzuordnen vermochte. Aber er kannte ihn.
    Der Pater öffnete mit einem leisen Seufzer wieder die Augen und
schüttelte den Kopf. »Ich muss mich wohl getäuscht haben«, sagte
er. »Aber ich hätte schwören können…« Er brach seinen Satz zum
zweiten Mal ab. Seine Augen wurden groß, während sich sein Blick
auf einen Punkt zwischen ihnen und der Kirchentür richtete. Beunruhigt sah Andrej in dieselbe Richtung.
    Durch die weit offen stehende Tür drangen immer noch Kälte und
pulveriger Schnee ein, der die Spuren, die Lorenz und er selbst vor
einiger Zeit hinterlassen hatten, schon wieder fast vollkommen zugedeckt hatte. Dennoch gab es eine frische Spur. Es war weder die Spur
eines Menschen noch die eines Tieres, sondern vielmehr eine regelmäßige Doppelreihe kreisrunder, tiefer Abdrücke, die draußen vor
dem Gebäude begannen und seine und die Fußspuren des Geistlichen
überlagerten. Andrej folgte der Spur mit Blicken und drehte sich
langsam herum, doch auch diesmal war Pater Lorenz schneller als er.
Entsetzt wirbelte er herum, rannte drei, vier Schritte weit zurück und
stieß dann einen keuchenden Schrei aus.
    Andrej zog mit einer fließenden Bewegung sein Schwert. Er eilte
zu Lorenz, ergriff den Geistlichen am Arm, schob ihn ein kleines
Stück zurück und nahm schützend vor ihm Aufstellung.
    Seine Reaktion war schnell, aber vollkommen überflüssig. Sie waren allein. Es gab nichts, wovor er Lorenz und sich selbst schützen
musste. Nur den Altar, die beiden Bänke und vier in schmutzige Laken eingewickelte Tote.
    Nur vier.
Nicht fünf, wie es hätte sein müssen.
»Großer Gott!«, hauchte Lorenz. »Was…?« Er wollte an Andrej
    vorbei zu den verbliebenen Leichen eilen, aber dieser hielt ihn mit
einer raschen Bewegung des Schwertes zurück und deutete mit der
anderen Hand auf den Boden vor ihnen. Die unheimliche Spur setzte
sich bis zu der Stelle fort, an der vorhin noch der fünfte Leichnam
gelegen hatte, knickte dann im rechten Winkel ab und führte geradewegs zu der fensterlosen Wand auf der linken Seite der Kirche, wo
sie unvermittelt aufhörte. Sie verschwand so spurlos, als wäre, wer
auch immer sie hinterlassen haben mochte, einfach durch die Wand
gelaufen.
    »Aber das ist doch…«, stammelte Lorenz. Er schüttelte hilflos den
Kopf, fand keine Worte und warf Andrej schließlich einen flehenden
Blick zu.
    Andrejs Gedanken überschlugen sich. Plötzlich packte ihn Angst,
so heftig, dass er all seine Willenskraft aufbieten musste, um seine
Hände am Zittern zu hindern.
    Einen verschwindend kurzen Augenblick lang glaubte er zu wissen,
was geschehen war. Zu kurz, um den Gedanken festzuhalten; zu intensiv, um das Grauen, das er auslöste, ignorieren zu können. Alles
ergab auf einmal einen Sinn: Die sonderbaren Geräusche, der seltsame Geruch, die unheimliche Spur, die einfach aufhörte, und der verschwundene Tote. Lorenz irrte sich. Vielleicht täte er gut daran, doch
an Hexerei und Teufelswerk zu glauben. Dann war der Moment der
Erkenntnis ebenso plötzlich wieder vorbei, wie er gekommen war.
Zurück blieb nur ein Gefühl so bodenloser Angst, wie Andrej sie
noch niemals zuvor empfunden hatte.
    »Was bedeutet das?«, flüsterte Lorenz. »Wer tut so etwas? Warum?«
Andrej beachtete ihn nicht, sondern folgte langsam der Spur, die
der unheimliche Eindringling hinterlassen hatte. Vor der Bank ließ er
sich in die Hocke sinken, wechselte das Schwert von der rechten in
die linke Hand und streckte die frei gewordenen Finger nach der
Stelle aus, an der der Leichnam gelegen hatte. Er wagte es nicht, das
Holz zu berühren, aber er schloss die Augen und konzentrierte all
seine überscharfen Sinne auf das, was er spürte. Ganz gleich, wer
oder was dort gewesen war - Mensch, Tier oder Ungeheuer -, es
musste eine Spur seiner Anwesenheit hinterlassen haben.
Da war tatsächlich etwas. Es war der Geruch. Er war dort eine Spur
intensiver als bei der Tür, wo der Wind schon damit begonnen hatte,
alle Spuren auszulöschen. Er hatte auch eine andere Note. Er war
nicht stärker geworden, sondern… siegesgewiss. Es war der Geruch
des Jägers.
»Andrej?«, flüsterte Lorenz hinter ihm.
Andrej öffnete die Augen, drehte mühsam den Kopf und sah verständnislos in Lorenz’ Gesicht hinauf. Der

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