Die Blutgraefin
Wahrheit herausfinden«, antwortete Lorenz nach einer unbehaglichen Pause. »Ihr wart bei Ulric. Zweifellos hat er Euch erzählt,
was manche über die Gräfin und ihren Beschützer sagen.«
»Zweifellos«, bestätigte Andrej. »Aber Ihr glaubt das doch nicht
etwa, oder?«
Der Geistliche griff nach einem Stück Brot, aß jedoch nichts davon,
sondern knetete es nur zwischen den Fingern. Ohne Andrej anzusehen, fuhr er mit besorgter Stimme fort: »Ihr seid gestern weggegangen, nachdem sie die Toten gebracht hatten. Ihr habt nicht gehört,
was die Leute reden. Ich schon.« Er schüttelte müde den Kopf. »Man
kann es ihnen nicht einmal verübeln. Sie haben Angst.«
»Und sie suchen einen Schuldigen«, vermutete Andrej.
»Niemand hat es bisher laut ausgesprochen«, bestätigte Lorenz. »Es
gibt keinen unter uns, der nicht auf die eine oder andere Art in der
Schuld der Gräfin stünde. Vielleicht ist das der Grund.« Er seufzte.
»Menschen sind sonderbare Geschöpfe, Andrej. Ich kenne sie lange
genug, um in ihre Herzen zu blicken. Wenn Ihr jemandem etwas
schuldet, so entsteht aus diesem Gefühl nur allzu leicht Zorn und
Hass.«
Andrej verstand immer noch nicht, worauf der Geistliche eigentlich
hinauswollte, und sagte ihm dies.
»Vielleicht weiß ich es selbst nicht«, gestand Lorenz. Er sah Andrej
durchdringend an, straffte die Schultern, räusperte sich und fuhr mit
veränderter Stimme fort. »Diese Versammlung war nicht meine Idee.
Die Menschen hören auf mich, doch sie lassen sich von mir nichts
befehlen. Ich fürchte, es wird ein Unglück geben, wenn wir nicht den
wahren Schuldigen finden.«
»Vielleicht ist es ja wirklich nur ein Raubtier«, gab Andrej zu bedenken.
»Dann findet es!«, verlangte Lorenz. »Wir hier sind dazu nicht in
der Lage, aber Ihr schon.«
»Was bringt Euch auf diesen Gedanken?«, erkundigte sich Andrej.
»Ihr tragt das Schwert an Eurem Gürtel nicht nur zur Zierde«, behauptete der Geistliche. »Habe ich Recht?«
»Das stimmt«, gab Andrej zu. »Aber seid Ihr denn sicher, dass Eure… Eure Schäfchen unsere Hilfe überhaupt wollen?«
Lorenz blieb ihm die Antwort auf diese Frage schuldig. Er begann
an seinem Brot herumzuknabbern, um Zeit zu gewinnen. Gerade als
Andrejs Geduld erschöpft war und er Lorenz unwirsch auffordern
wollte, endlich zu antworten, vernahmen sie einen dumpfen Laut, der
durch die geschlossene Tür der Sakristei hereindrang. Lorenz sprang
so hastig auf, als hätte er nur auf diesen Vorwand gewartet, eilte um
den Tisch herum und verschwand durch die Tür, ohne Andrej auch
nur eines Blickes zu würdigen. Sein Verhalten ärgerte Andrej. Aber
er begriff auch den wahren Grund seines Ärgers. Lorenz - und mit
ihm die meisten anderen Dorfbewohner - kamen mit ihrem Verdacht
der Wahrheit unangenehm nahe. Es bestand für Andrej nicht der geringste Zweifel daran, wer hinter diesen unheimlichen und erschreckenden Vorkommnissen steckte, aber ihm war auch klar, dass der
Zorn der Menschen sich nicht allein gegen Blanche richten würde,
wenn sie die Wahrheit erfuhren. Maria war in Gefahr.
Mit einem Ruck stand er auf und folgte dem Kirchenmann.
Andrej hatte es nicht so eilig wie Pater Lorenz, sondern verwandte
noch einige Augenblicke darauf, die Sakristei genauer zu betrachten.
Es überraschte ihn nicht, auch dort einige Gegenstände von Wert
vorzufinden, die man in einer so kleinen Kirche nicht erwartet hätte.
Ulric war entweder ein äußerst großzügiger Mensch, oder er hatte
eine Menge Sünden auf sein Gewissen geladen.
Als Andrej durch die Tür der Sakristei trat, stand Pater Lorenz bereits mitten in der Kirche und sah sich nach rechts und links um. Er
war vollkommen allein.
Andrej trat rasch neben ihn und sah ihn fragend an.
»Ich hätte schwören können…«, murmelte der Geistliche.
Andrej erging es ähnlich. Er wusste, dass er etwas gehört hatte.
Seltsam war nur, dass er nicht mit Gewissheit sagen konnte, um was
für ein Geräusch es sich gehandelt hatte.
»Erwartet Ihr…«, begann er, doch Lorenz hob rasch den Arm und
brachte ihn mit einer erschrockenen Geste zum Schweigen. Gleichzeitig legte er den Kopf auf die Seite und lauschte einige Atemzüge
lang mit geschlossenen Augen.
Andrej tat dasselbe, aber er hörte nichts Auffälliges. Abgesehen
von ihm selbst und dem Geistlichen war die Kirche vollkommen leer.
Die einzigen Geräusche, die er hörte, waren ihre eigenen Atemzüge
und die klagende Stimme des Windes, die durch die offene Tür
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