Die Blutlinie
Tür geöffnet, ganz weit. Wir hatten alle unsere Waffen im Anschlag.«
Ich wechsele die Perspektive. »Was glaubst du, ist Charlie als Erstes aufgefallen?«
»Der Gestank. Es muss der Gestank gewesen sein. Und die Dunkelheit. Alle Lichter waren aus, bis auf das in ihrem Schlafzimmer.« Sie erschauert, ohne sich dessen bewusst zu sein. »Von der Stelle aus, an der wir standen, konnten wir den Eingang zu ihrem Schlafzimmer sehen. Er lag am Ende des Flurs fast genau gegenüber der Eingangstür. In der Wohnung war es beinahe stockdunkel, doch die Schlafzimmertür … hatte einen hellen Umriss.« Sie zeichnet die Linien in der Luft nach. »Es hat mich an das Monster im Schrank erinnert, vor dem ich als Kind immer Angst hatte. Du weißt schon, irgendetwas kratzt auf der anderen Seite der Tür, irgendwas will raus. Irgendwas Schreckliches.«
»Erzähl mir mehr über den Gestank.«
Sie verzieht das Gesicht. »Parfum und Blut. So hat es gerochen. Der Geruch von Parfum war stärker, aber man konnte das Blut darunter riechen. Schwer und kupferartig. Subtil und trotzdem penetrant. Bestürzend. Wie etwas, das man aus dem Augenwinkel sehen kann.«
»Was geschah dann?«, wechsle ich das Thema.
»Wir machten das Übliche. Riefen nach den Bewohnern, inspizierten die Küche und das Wohnzimmer. Wir benutzten Taschenlampen, weil wir nichts anfassen wollten.«
»Das ist gut«, nicke ich aufmunternd.
»Danach näherten wir uns der Schlafzimmertür.« Sie hält inne und sieht mich an. »Ich hab Charlie gesagt, er soll Handschuhe anziehen, bevor wir reingegangen sind, Smoky.«
Sie erzählt mir, dass sie wusste, spürte, was sie auf der anderen Seite der Tür antreffen würde: Mord. Und dass sie mit Beweisen, nicht mit Überlebenden konfrontiert werden würde. »Ich erinnere mich, wie ich den Türknauf angestarrt habe. Ich wollte nicht an ihm drehen. Ich wollte nicht ins Zimmer sehen. Ich wollte das Monster nicht rauslassen.«
»Erzähl weiter.«
»Charlie drehte am Knauf. Die Tür war nicht abgeschlossen. Wir hatten ein wenig Mühe, sie zu öffnen, weil in den unteren Türspalt ein Handtuch gestopft war.«
»Ein Handtuch?«
»Mit Parfum getränkt. Er hat es dorthin gelegt, damit der Gestank vom Leichnam deiner Freundin nicht nach draußen dringt. Er wollte nicht, dass irgendjemand sie findet, bevor er so weit war.«
Und in diesem Augenblick, aus heiterem Himmel, will irgendetwas in mir aufhören. Will aufstehen, durch die Tür nach draußen gehen, in den Jet steigen und zurück nach Hause fliegen. Es ist ein Gefühl, das mich zu übermannen droht, so stark ist es. Ich kämpfe dagegen an.
»Und dann?«, frage ich Jenny.
Sie starrt schweigend in die Ferne. Sieht zu viel. Als sie wieder spricht, klingt ihre Stimme tonlos und leer. »Es stürzte alles auf einmal auf uns ein. Ich glaube, genau so hat er es gewollt. Das Bett war verrückt worden, stand in einer Linie mit der Tür, sodass wir alles sehen und riechen mussten, sobald wir sie öffneten. In einem einzigen Augenblick.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich erinnere mich, dass ich an diese unglaublich weiße Wohnungstür denken musste. Es hat eine verdammte Bitterkeit in mir aufsteigen lassen; war einfach zu viel, um es zu verarbeiten. Ich glaube, wir standen eine ganze Minute reglos da und haben auf das Bett gestarrt. Es war Charlie, der als Erster gemerkt hat, dass … dass Bonnie noch am Leben war.«
Sie stockt, starrt erneut ins Leere, als sie den Augenblick durchlebt. Ich warte geduldig. »Sie hat geblinzelt, ich erinnere mich. Ihre Wange lag auf dem Gesicht ihrer toten Mutter, und sie sah selbst tot aus. Wir dachten es im ersten Moment, als wir ins Zimmer kamen. Und dann hat sie geblinzelt. Charlie fing an zu fluchen, und …« Sie beißt sich auf die Lippe. »… und leise zu weinen. Aber das bleibt unter uns, okay? Unter uns und den Uniformierten, die dabei waren.«
»Keine Sorge.«
»Dann kam der erste und – hoffe ich – einzige Mist, den wir gebaut haben. Charlie ist einfach ins Zimmer gerannt und hat Bonnie von ihren Fesseln losgebunden. Hat auf dem Tatort rumgetrampelt.« Ihre Stimme klingt hohl und verwirrt. »Er hat ununterbrochen geflucht, als wolle er überhaupt nicht mehr aufhören. Er hat auf Italienisch geflucht. Es klingt ziemlich schön. Eigenartig, nicht wahr?«
»Ja«, antworte ich sanft. Jenny ist vollständig in dem Moment gefangen, und ich will sie nicht herausreißen.
»Bonnie war schlaff und zeigte keinerlei Reaktion. Sie wirkte, als hätte
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