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Die Blutlinie

Die Blutlinie

Titel: Die Blutlinie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cody Mcfadyn
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kein Wort gesprochen. Meinst du, sie wird darüber hinwegkommen? Kann ein Mensch über so etwas hinwegkommen?«
    »Ich weiß es nicht. Ich bin immer wieder überrascht, was Menschen alles verarbeiten können. Aber ich weiß es nicht.«
    Sie sieht mich nachdenklich an. »Ich schätze, niemand weiß das.« Sie schweigt kurz, bevor sie fortfährt. »Nachdem wir sie mit einem Krankenwagen weggebracht hatten, ließ ich die Wohnung abriegeln. Ich rief die Spurensicherung und trat ihnen kräftig in den Hintern. Vielleicht ein wenig stärker, als es nötig gewesen wäre, doch ich war so … so verdammt wütend. Das beschreibt nicht annähernd, was ich empfunden habe.«
    »Ich verstehe, was du meinst.«
    »Während all das passierte, rief ich bei euch an und sprach mit Alan. Viel mehr habe ich nicht. Wir stehen noch ganz am Anfang, Smoky. Wir haben bisher lediglich den Tatort auf Hinweise abgesucht. Ich hatte bisher nicht mal Zeit, mir alles genauer anzusehen.«
    »Treten wir ein paar Schritte zurück. Lass mich dich als Zeugin behandeln.«
    »In Ordnung.«
    »Wir machen es als KB.«
    »Okay.«
    Mit »KB« meine ich »kognitive Befragung«. Die Erinnerungen von Zeugen und ihre Berichte gehören zu unseren größten Fehlerquellen. Die Leute sehen entweder zu wenig, oder sie erinnern sich aufgrund eines Traumas oder starker Gefühle nicht genau an das, was sie gesehen haben. Dafür erinnern sie sich an Dinge, die überhaupt nicht so passiert sind. Die kognitive Befragungstechnik wird schon seit geraumer Zeit eingesetzt. Zwar gibt es eine spezifische Methodologie, doch ihre Anwendung ist eine Kunst. Ich bin ziemlich gut darin. Callie ist besser. Alan ist ein Meister.
    Das der kognitiven Befragung zugrunde liegende Konzept besteht darin, dass man einen Zeugen nicht einfach vom Anfang bis zum Ende durch die Ereignisse führt, wieder und immer wieder, weil das die Erinnerung in der Regel nicht verbessert. Stattdessen werden drei Techniken eingesetzt. Die erste heißt Kontext. Statt mit dem Anfang der Ereignisse beginnt man schon vorher. Man fragt, wie der Tag gewesen sei, welchen Verlauf er hatte, welche Sorgen, Glückserlebnisse, Banalitäten den Zeugen gerade beschäftigt haben. Man bringt ihn so dazu, sich an den normalen Alltag vor dem ungewöhnlichen Ereignis zu erinnern, an das er sich erinnern soll. Auf diese Weise soll das Geschehen in den richtigen Kontext gesetzt werden. Indem die Zeugen in Erinnerungen an die Zeit davor verankert werden, sind sie leichter imstande, das Ereignis Revue passieren zu lassen und mehr Details aus ihrem Gedächtnis zu Tage zu fördern.
    Die zweite Technik besteht darin, die Sequenz der Erinnerungen zu verändern. Statt mit dem Anfang zu beginnen, fängt man hinten an und arbeitet sich rückwärts durch die Abfolge der Ereignisse vor. Oder man fängt mittendrin an. Das bewirkt, dass der Zeuge innehält und reflektiert. Die dritte und letzte Technik einer guten KB besteht darin, die Perspektive zu verändern. »He«, könnte man fragen, »wie mag das alles wohl für einen Betrachter in der Tür ausgesehen haben?« Dies verschiebt die Analyse des Ereignisses und kann weitere Fakten zu Tage fördern.
    Bei jemandem wie Jenny, die eine ausgebildete Ermittlerin mit exzellentem Gedächtnis ist, kann die kognitive Befragung äußerst effektiv sein.
    »Es ist später Nachmittag«, fange ich an. »Du bist in deinem Büro. Was machst du gerade …?«
    Sie blickt zur Decke hinauf, während sie versucht, sich zu erinnern. »Ich unterhalte mich mit Charlie. Wir gehen einen Fall durch, an dem wir gerade arbeiten. Eine sechzehn Jahre alte Prostituierte, die zu Tode geprügelt und in einer Seitengasse in Tenderloin liegen gelassen wurde.«
    »M-hm. Was sagt ihr dazu?«
    Ihre Augen werden traurig. »Es ist das, was Charlie immer sagt. Dass sich niemand einen Dreck um eine tote Nutte schert, auch wenn sie gerade erst sechzehn Jahre alt war. Charlie ist wütend und deprimiert und flucht herum. Er kommt nicht klar mit toten Kindern.«
    »Wie hast du dich gefühlt, während du ihm zugehört hast?«
    Sie seufzt. »Genauso. Wütend. Traurig. Ich hab mir nicht Luft gemacht wie er, aber ich hab ihn verstanden. Ich erinnere mich, dass ich auf meinen Schreibtisch gestarrt habe, während er herumgeflucht hat. Mir ist aufgefallen, dass ein Foto seitlich aus ihrer Akte ragte. Es war ein Bild von dem Ort, an dem wir sie gefunden haben. Ich hab einen Teil ihres Beins gesehen, vom Knie an abwärts. Es sah tot aus. Ich fühlte

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