Die Blutlinie
nichts?«
»Das war’s.«
»Hm. Wissen wir, woher der Anruf kam?«
»Von einem Münztelefon in Los Angeles.«
Ich spitze die Ohren. »Los Angeles?« Ich denke darüber nach. »Vielleicht ist das der Grund, weshalb er drei Tage benötigt hat. Also ist er entweder ein Reisender, oder er kommt aus Los Angeles.«
»Oder er will uns auf eine falsche Fährte führen. Wenn er in Los Angeles wohnt, dann würde ich sagen, dass er nur wegen Annie hergekommen ist.« Ihr Gesichtsausdruck ist angespannt und wirkt unbehaglich bei diesen Worten. Ich kann mir den Grund dafür denken.
»Was bedeuten würde, dass ich die Person bin, deren Aufmerksamkeit er wollte«, sage ich. Ich habe diese Möglichkeit bereits akzeptiert. – Nein, ich habe vielmehr mit dieser Möglichkeit gerechnet, obwohl ich mich damit noch nicht emotional auseinander gesetzt habe. Mit der Möglichkeit, dass Annie nicht nur wegen der Dinge gestorben ist, die sie getan hat, sondern weil sie meine Freundin war.
»Richtig. Aber das ist reine Spekulation. Jedenfalls habe ich daraufhin meine E-Mails durchgesehen …«
Ich unterbreche sie. »Von wo aus hat er die E-Mail abgeschickt?«
Sie sieht mich zögernd an. »Vom Computer deiner Freundin, Smoky. Es war ihre E-Mail-Adresse.«
Eine plötzliche, unerwartete Woge des Zorns wallt in mir hoch. Ich weiß, dass er es nicht nur getan hat, um seine Spur zu verwischen, sondern auch, um zu zeigen, dass er ganz von Annie Besitz genommen hat. Ich schiebe den Gedanken beiseite. »Erzähl weiter.«
»In der E-Mail wurde der Name von Annie King genannt und ihre Adresse, weiter nichts. Und es gab vier Dateianhänge. Drei davon waren Fotos von deiner Freundin. Der vierte war der Brief an dich. Jetzt nahmen wir den Anruf sehr ernst. Man kann heutzutage Fotos beinahe nach Belieben fälschen, doch es ist wie mit einer Bombendrohung. Man evakuiert für den Fall der Fälle. Also fuhren mein Partner und ich mit ein paar Uniformierten zu der Adresse.« Sie nippt an ihrem Tee. »Die Tür war nicht abgeschlossen, und nachdem wir ein paar Mal geklopft hatten, ohne dass jemand antwortete, zogen wir die Waffen und drangen in die Wohnung ein. Deine Freundin und ihre Tochter lagen im Schlafzimmer, auf dem Bett. Annie hatte ihren Computer dort stehen.« Jennifer schüttelt den Kopf bei der Erinnerung. »Es war ein schlimmer Anblick, Smoky. Du hast schon mehr derartige Dinge gesehen als ich; diese Art von methodischem, vorsätzlichem Morden. Aber ich glaube nicht, dass es dir weniger unter die Haut gegangen wäre als mir. Er hat sie aufgeschnitten, ihre Innereien entfernt und in Tüten gepackt. Er hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Doch das Schlimmste von allem war ihre Tochter.«
»Bonnie.«
»Ja. Sie war an ihre Mutter gefesselt, von Gesicht zu Gesicht. Nichts besonders Ausgeklügeltes oder so. Er hat sie einfach Bauch an Bauch gelegt und dann beide mit einem Seil umwickelt, bis sie sich nicht mehr rühren konnte. Sie lag dort drei Tage so, Smoky. An ihre eigene tote Mutter gefesselt. Du weißt, was in einem Zeitraum von drei Tagen mit einer Leiche passiert. Die Klimaanlage war nicht eingeschaltet. Und der Mistkerl hat ein Fenster gekippt offen gelassen. Es gab Schmeißfliegen.«
Ich weiß es. Was sie beschreibt, ist unvorstellbar.
»Das Kind ist zehn Jahre alt. Der Gestank ist schon schlimm, und sie liegt da, überall Fliegen. Sie hat den Kopf zur Seite gedreht, sodass ihre Wange auf dem Gesicht ihrer Mutter lag.« Jenny schneidet eine Grimasse, und ich ahne, welches Entsetzen sie bei diesem Anblick empfunden haben muss. Ich bin dankbar, unendlich dankbar, dass mir dieser Anblick erspart geblieben ist. »Sie war still. Sie hat nicht ein Wort gesagt, als wir in den Raum kamen. Nichts, als wir sie losgebunden haben. Sie war einfach nur schlaff und hat uns angestarrt. Sie hat nicht auf unsere Fragen reagiert. Sie war dehydriert. Wir haben sofort einen Notarzt geholt, und ich habe einen Beamten angewiesen, sie zu begleiten, als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Körperlich geht es ihr wieder gut. Ich habe einen Posten vor ihre Tür gestellt, zur Sicherheit. Ich habe ihr übrigens ein Privatzimmer geben lassen.«
»Danke. Ich weiß das zu schätzen. Sehr.«
Jenny winkt ab und nimmt einen weiteren Schluck von ihrem Tee. Ich bin überrascht, als ich sehe, wie ihre Hand unmerklich zittert. Die Erinnerung macht ihr tatsächlich sehr zu schaffen, so hart sie sonst auch sein mag. Sie ist erschüttert. »Das Kind hat seither noch
Weitere Kostenlose Bücher