Die Blutlinie
mich müde.«
»Erzähl weiter.«
»Charlie beruhigte sich schließlich wieder. Er hörte auf herumzupoltern und saß einfach nur noch da. Schließlich sah er mich an und grinste auf seine alberne, schiefe Weise und meinte, es tue ihm Leid. Ich sagte, das sei schon in Ordnung.« Sie zuckt die Schultern. »Er hat sich meine Schimpftiraden auch schon anhören müssen, mehr als einmal. So ist das eben bei Partnern.«
»Was hast du in diesem Augenblick ihm gegenüber empfunden?«
»Ich habe mich ihm verbunden gefühlt.« Sie wedelt mit der Hand. »Nicht sexuell oder verliebt oder so was. Das war zwischen uns nie ein Thema. Einfach nur verbunden. Ich wusste, dass er immer für mich da sein würde und umgekehrt. Ich war froh, einen so guten Partner zu haben. Ich wollte ihm das gerade sagen, als der Anruf kam.«
»Von dem Täter?«
»Ja. Ich erinnere mich, dass ich mich irgendwie … desorientiert gefühlt habe, als der Kerl zu reden anfing.«
»Desorientiert? Inwiefern?«
»Na ja, das Leben war irgendwie normal. Ich saß mit Charlie in meinem Büro, und jemand rief: ›Da ist ein Anruf für dich.‹ Ich bedankte mich und nahm den Hörer ab. Dinge und Bewegungen, die ich schon Tausende Male getan habe, ohne mir etwas dabei zu denken. Völlig normal eben. Und plötzlich war es das nicht mehr. Eine Sekunde vorher hatte ich mich noch mit Charlie unterhalten, und dann das …« Sie schnippt mit den Fingern. »Einfach so. Es war schrill.« Ihre Augen wirken beunruhigt, als sie dies sagt.
Das ist der zweite Grund, aus dem ich beschlossen habe, Jenny einer kognitiven Befragung zu unterziehen. Das größte Problem mit der Erinnerung bei Zeugen ist das durch das Ereignis ausgelöste Trauma. Starke Emotionen behindern die Erinnerung. Wer nicht bei einer Vollzugsbehörde arbeitet, kann sich nicht vorstellen, dass auch wir unsere Traumata erleiden. Erwürgte Kinder, zerstückelte Mütter, vergewaltigte Knaben. Mit Mördern telefonieren. Diese Erfahrungen sind schockierend. Sie erzeugen zahlreiche Emotionen, ganz gleich, wie gut wir sie unterdrücken. Sie sind traumatisch.
»Ich verstehe. Ich glaube, dass wir hier einen Kontext haben, Jenny.« Meine Stimme ist sanft und leise. Sie lässt sich von mir in die Situation führen, und ich möchte, dass sie in ihr bleibt. »Gehen wir weiter. Machen wir dort weiter, wo du zur Tür von Annie Kings Wohnung gehst.«
Sie blinzelt ins Leere. »Es ist eine weiße Tür. Ich erinnere mich, dass ich bei ihrem Anblick dachte, dies sei die weißeste Tür, die ich je gesehen habe. Irgendetwas an dieser Tür hat ein hohles Gefühl in mir erweckt. Zynisch.«
»Wieso?«
Sie sieht mich aus scheinbar uralten Augen an. »Weil ich wusste, dass es eine Lüge war. All das Weiß. Eine totale Lüge. Ich habe es in meinem Innersten gespürt. Was auch immer hinter dieser Tür lag, es war nicht weiß, absolut nicht. Es war dunkel und verderbt und böse.«
Ich fühle eine stechende Kälte. Eine Art nachempfundenes Déjà-vu. Ich habe auch schon gespürt, was sie gerade beschreibt.
»Erzähl weiter.«
»Wir klopfen und rufen ihren Namen. Nichts. Alles ist still.« Sie runzelt die Stirn. »Weißt du, was noch merkwürdig war?«
»Was?«
»Niemand auf dem gesamten Korridor hat den Kopf aus der Tür gestreckt, um zu sehen, was da vor sich ging. Ich meine, wir haben laut geklopft, wie die Polizei es eben macht. Laut und anhaltend. Aber niemand hat den Kopf aus der Tür gestreckt. Ich glaube nicht, dass Annie King ihre Nachbarn gekannt hat. Oder vielleicht waren sie sich auch nur fremd.«
Sie seufzt.
»Wie dem auch sei. Charlie sieht mich an, und ich sehe ihn an, und wir sehen die Uniformierten an und ziehen unsere Waffen.« Sie beißt sich auf die Lippe. »Das ungute Gefühl war ziemlich stark. Es war ein Klumpen aus böser Vorahnung, der in meinem Magen umhergetanzt ist. Ich konnte es bei den anderen ebenfalls spüren. Ich konnte es riechen. Schweiß und Adrenalinzittern. Flaches Atmen.«
»Hattest du Angst?«, frage ich.
Sie antwortet zuerst nicht. »Ja«, sagt sie dann. »Ich hatte Angst. Angst vor dem, was wir vorfinden würden.« Sie verzieht ihr Gesicht. »Weißt du, was seltsam ist? Ich habe immer Angst, bevor ich einen Tatort betrete. Ich bin seit mehr als zehn Jahren bei der Mordermittlung und habe alles gesehen, und trotzdem habe ich jedes Mal aufs Neue Angst.«
»Erzähl weiter.«
»Ich habe am Türknauf gedreht, und die Tür ging auf, ohne Probleme. Ich habe alle reihum angesehen und die
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