Die Blutlinie
sie keine Knochen. Charlie band sie los und rannte mit ihr aus der Wohnung. Einfach nach draußen, bevor ich denken oder irgendwas sagen konnte. Er war verzweifelt. Ich verstand ihn.« Sie verzieht das Gesicht. »Ich habe die Uniformierten angewiesen, den Notarzt und die Spurensicherung und den Gerichtsmediziner anzufordern. Und dann war ich allein mit deiner Freundin. Alles in diesem Zimmer roch nach Parfum und Blut und Tod. Ich war so wütend und traurig, dass ich hätte kotzen können. Ich habe auf Annie runtergesehen.« Sie erschauert erneut. Ballt die Fäuste, öffnet sie wieder. »Ist dir das schon mal an den Toten aufgefallen, Smoky? Wie still und ruhig sie daliegen? Nichts Lebendes könnte je diese Art von Reglosigkeit imitieren. Still und reglos und niemand zu Hause. An diesem Punkt hab ich aufgehört zu fühlen.« Sie sieht mich an. »Du weißt selbst, wie das funktioniert.«
Ich nicke. Ich weiß es. Sobald man den ersten Schock überwunden hat, schließt man seine Gefühle weg, sodass man seine Arbeit machen kann, ohne weinen oder sich erbrechen zu müssen oder auf der Stelle den Verstand zu verlieren. Man muss imstande sein, das Entsetzliche mit klinischem Auge zu betrachten. Es ist unnatürlich.
»Irgendwie ist es merkwürdig, daran zu denken? Fast so, als könnte ich meine eigene Stimme in meinem Kopf hören, roboterartig monoton.« Sie verzieht das Gesicht. »Weibliche Weiße, ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, nackt ans Bett gefesselt. Schnittwunden vom Hals bis zu den Knien, wahrscheinlich mit einem Messer zugefügt. Zahlreiche Schnitte sehen lang und oberflächlich aus und weisen auf Folter hin. Der Rumpf …« Ihre Stimme zittert für eine Sekunde. »Die Bauchhöhle ist geöffnet und scheint keine Organe mehr zu enthalten. Das Gesicht des Opfers ist verzerrt, als sei es schreiend gestorben. Die Knochen der Arme und Beine scheinen gebrochen. Der Mord ist offenbar planmäßig erfolgt. Das Opfer ist langsam gestorben. Die Position des Leichnams legt sorgfältige Planung nahe. Kein Verbrechen aus Leidenschaft.«
»Erläutere mir das«, fordere ich sie auf. »Welchen Eindruck hast du angesichts der Szene von ihm gehabt, in jenem Augenblick?«
Sie schweigt lange Zeit. Ich warte, beobachte sie, wie sie aus dem Fenster starrt. Schließlich richtet sie ihre Augen auf mich.
»Ihre Todesqualen haben ihn kommen lassen, Smoky. Es war der beste Sex, den er jemals hatte.«
Ihre Worte lassen mich erstarren. Sie klingen dunkel, kalt und grauenhaft.
Doch sie sind auch ein Teil dessen, wonach ich suche. Und sie klingen wahr. Noch während sie mich aushöhlen, eine innere Leere in mir erzeugen, fange ich an, ihn zu riechen. Er riecht nach Parfum und Blut, wie eine Tür in der Dunkelheit, umrahmt von Licht. Er riecht nach einem von Schreien durchsetzten Lachen. Er riecht nach als Wahrheit getarnten Lügen, nach aus den Augenwinkeln betrachtetem Zerfall.
Er ist präzise. Und er genießt den Akt.
»Danke Jenny.« Ich fühle mich leer und beschmutzt und von Finsternis erfüllt. Doch ich spüre auch, wie sich in mir etwas zu regen beginnt. Ein Drache. Etwas, von dem ich fürchtete, es sei gestorben, verloren, amputiert durch Joseph Sands. Es ist noch nicht erwacht – noch nicht. Aber ich kann es wieder spüren, zum ersten Mal seit Monaten kann ich es wieder spüren.
Jenny schüttelt sich ein wenig. »Ziemlich gut«, sagt sie. »Du hast mich tatsächlich zurückversetzt.«
»Dazu war von meiner Seite aus nicht viel nötig. Du bist eine ideale Zeugin.« Meine Antwort klingt apathisch in meinen Ohren. Ich fühle mich unendlich müde.
Wir sitzen noch eine Weile schweigend da, und jede hängt ihren unruhigen Gedanken nach.
Mein Mokka schmeckt nicht länger exquisit, und Jenny scheint das Interesse an ihrem Tee verloren zu haben. Tod und Schrecken bewirken das. Sie vermögen jedem Augenblick alle Freude zu entziehen. Es ist das, womit man ständig kämpfen muss, wenn man für das Gesetz arbeitet. Die Schuld der Überlebenden. Es erscheint beinahe als Sakrileg, einen Moment im Leben zu genießen, während man darüber spricht, wie ein anderes Leben schreiend endete.
Ich seufze. »Kannst du mich zu Bonnie bringen?«
Wir zahlen und gehen. Auf dem ganzen Weg ins Krankenhaus fürchte ich mich vor den starrenden Augen. Ich rieche Blut und Parfum, Parfum und Blut, und es riecht nach Verzweiflung.
KAPITEL 11
Ich hasse Krankenhäuser. Ich bin froh, dass es sie gibt, wenn man sie braucht, doch ich habe nur eine
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