Die Blutlinie
Schreibtisch liegt.
»Hey«, sagt Alan. Ich bemerke seinen forschenden, abschätzenden Blick. Ich reagiere nicht.
»Schon irgendwelche Neuigkeiten von den anderen?«
»Bei mir hat sich niemand gemeldet.«
»Und du? Hast du irgendwas gefunden?«
Er schüttelt den Kopf. »Bis jetzt nicht. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die Kollegen hier Blindgänger sind, aber dem ist nicht so. Detective Chang hat ihr Boot fest im Griff.« Er schnippt mit den Fingern und grinst in Charlies Richtung. »O ja, sorry. Und ihr loyales Helferlein natürlich auch.«
»Du kannst mich mal«, antwortet Charlie, ohne vom Schreibtisch aufzublicken.
»Mach weiter. Ich werde Leo und James anrufen.«
Er zeigt mir den erhobenen Daumen und konzentriert sich wieder auf die Akte.
Mein Handy klingelt. »Barrett?«
Ich höre James’ missmutige Stimme. »Wo zur Hölle ist Detective Chang?«, schnarrt er.
»Was ist passiert, James?«
»Der Pathologe will erst anfangen zu schneiden, wenn deine kleine Freundin hier aufgetaucht ist. Sie soll ihren Hintern hier rüberschaffen, aber plötzlich.«
Er legt auf, bevor ich etwas erwidern kann. Arschloch.
»James braucht dich in der Pathologie«, informiere ich Jenny. »Der Gerichtsmediziner will nicht ohne dich anfangen.«
Sie lächelt schwach. »Ich nehme an, der Spinner ist sauer?«
»Ziemlich.«
Sie grinst. »Sehr gut. Ich mache mich gleich auf den Weg.«
Sie bricht auf. Zeit für mich, Leo anzurufen, unseren Neuling. Während ich wähle, schießt mir zusammenhanglos die Frage durch den Sinn, welchen Schmuck er wohl im Ohr trägt, wenn er nicht im Dienst ist? Das Telefon klingelt fünf- oder sechsmal, bevor er sich meldet, und als er es tut, lässt mich seine Stimme zusammenzucken. Sie klingt hohl und zutiefst erschüttert. Seine Zähne klappern.
»Ca-ca-carnes?«
»Ich bin es, Smoky. Was gibt’s, Leo?«
»Ein Vi-vi-vi-video …«
»Langsam, Leo, langsam. Atmen Sie tief durch, und erzählen Sie mir dann, was passiert ist.«
Als er endlich spricht, ist seine Stimme sehr leise. Und was er sagt, füllt meinen Kopf mit weißem Rauschen.
»Eine Vi-vi-vi-videoaufnahme vom Mo-mo-mo-mord. Furchtbar …«
Alan sieht mich an, Besorgnis in den Augen. Er spürt, dass etwas passiert ist.
Endlich finde ich die Sprache wieder. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Leo. Gehen Sie nirgendwohin. Wir sind so schnell wie möglich bei Ihnen.«
KAPITEL 13
Ich erinnere mich an diese Gegend von meinem Besuch bei Annie, nachdem ihr Vater gestorben war. Sie hat in einem riesigen Apartmentblock gewohnt, ein weiterer Bezug zu New York, wo die Apartments eher an geräumige Eigentumswohnungen erinnern, ausgestattet mit eingelassenen Badewannen und Esszimmern. Wir parken vor dem Gebäude.
»Hübsche Gegend, gute Adresse«, bemerkt Alan, während er durch die Windschutzscheibe nach oben schielt.
»Ihr Dad war einigermaßen wohlhabend«, antworte ich. »Er hat ihr in seinem Testament alles vermacht.«
Ich sehe mich um in dieser sauberen, sicheren Gegend. Es gibt kein Gebiet in San Francisco, das wirklich als Vorstadt bezeichnet werden könnte, doch es gibt fraglos so etwas wie »nette Viertel«. Hier findet man Zuflucht vor dem Lärm der Stadt, und in den besten Gegenden wohnt man so hoch, dass man über die Bucht hinwegblicken kann. Es gibt alte Viertel mit ihren Häusern im viktorianischen Stil und Neubaugegenden. Wie diese hier.
Erneut geht mir der Gedanke durch den Kopf: Nirgendwo auf der Welt ist man wirklich sicher vor einem Mord. Nirgendwo. Die Tatsache, dass man in einer Gegend wie dieser weniger damit rechnet als in einem Slum, macht einen am Ende nicht weniger tot.
Alan ruft Leo an, als wir aus dem Wagen steigen. »Wir stehen vor dem Haus, mein Junge, also halt durch. Wir sind in einer Sekunde oben.«
Wir gehen durch die Eingangstür und in die Lobby. Der Mann an der Rezeption beobachtet uns, als wir in den Lift steigen, doch er sagt nichts. Wir fahren schweigend in den dritten Stock hinauf.
Alan und ich haben bereits auf dem Weg hierher geschwiegen, und uns ist immer noch nicht nach Reden zumute. Das ist der schlimmste Teil an unserer Arbeit, für jeden. Zuzusehen, wie es passiert. Es ist eine Sache, Beweise in einem Labor zu analysieren oder sich in den Kopf eines Mörders zu versetzen. Aber es ist etwas ganz anderes, eine Leiche zu sehen. Blut in einem Raum zu riechen. Wie Alan einmal sagte: »Der Unterschied besteht darin, ob du an Scheiße denkst oder ob du sie frisst.«
Charlie schweigt und
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