Die Blutlinie
Jacke sehen, deswegen ging ich zum Schrank. Dort hing eine blaue Frauenjacke, und in der Tasche fand ich eine CD.«
»Also haben Sie beschlossen, einen Blick darauf zu werfen. Das ist okay. Ich hätte das Gleiche getan.«
Ermutigt fährt er fort: »Wenn man eine CD brennt, kann man ihr einen Titel geben. Als ich den Titel dieser CD sah, wurde ich hellwach.« Leo schluckt. »Der Titel lautet: ›Der Tod von Annie‹.«
Charlie schneidet eine Grimasse. »Dieser Hurensohn! Jenny wird stinksauer sein, dass wir die CD übersehen haben.«
»Fahren Sie fort«, fordere ich Leo auf.
»Ich habe nachgesehen, welche Dateien sich auf der CD befinden. Es gab nur eine einzige. Ein hochauflösendes AVI. Es füllt die gesamte CD.« Er schluckt erneut, und die Blässe kehrt in sein Gesicht zurück, wenngleich nicht so stark wie zuvor. »Ich hab auf die Datei geklickt und einen Mediaplayer gestartet, der die Datei abgespielt hat. Es war …« Er schüttelt den Kopf, während er sichtlich um Fassung ringt. »Entschuldigung. Der Täter hat dieses Video aufgenommen und gebrannt. Es geht nicht vom Anfang bis zum Ende der Tat – das hätte wahrscheinlich den Umfang der CD gesprengt … Es ist mehr eine … eine Montage.«
»Eine Montage vom Mord an Annie«, sage ich für ihn. Ich weiß, dass er es nicht selbst aussprechen möchte.
»Ja … Es ist … unbeschreiblich! Ich wollte nicht weiter hinsehen, doch ich konnte nicht anders. Dann fing ich an mich zu übergeben, und dann rief ich Agent Washington an. Ich verließ die Wohnung und wartete draußen vor der Tür, bis Sie kamen.«
»Sie haben hoffentlich nicht ins Schlafzimmer gekotzt, oder?«, fragt Charlie.
»Ich hab’s bis zur Toilette geschafft.«
Alan schlägt ihm mit seiner Riesenpranke auf die Schulter. Würde Leo ein Gebiss tragen, wäre es ihm von der Wucht wahrscheinlich aus dem Mund geflogen. »Siehst du?«, ruft er. »Du hast das Zeug dazu, Leo. Du hast einen klaren Kopf bewahrt, auch wenn dein Magen rebelliert hat. Das ist gut.«
Leo lächelt ihn verlegen an.
»Sehen wir es uns an«, sage ich. »Leo, Sie müssen nicht mitkommen, wenn Sie nicht wollen. Das meine ich ernst.«
Er sieht mir sehr direkt in die Augen. Sein Blick ist eine überraschende Mischung aus Reife und Nachdenklichkeit. Mir wird mit einem Schlag bewusst, was er denkt. Er denkt, dass Annie meine Freundin war. Dass, wenn ich imstande bin, reinzugehen und mir anzusehen, wie sie gestorben ist, jeder dazu imstande sein müsste. Ich kann seine Gedanken beinahe hören. Seine Augen bestätigen es; sie werden hart, und er schüttelt entschieden den Kopf. »Nein, Ma’am. Der Computer ist mein Job. Ich mache meinen Job.«
Ich erkenne seine Stärke auf die Weise an, wie wir derartige Dinge stets anerkennen – indem ich kein Aufhebens davon mache. »Meinetwegen. Dann führen Sie uns hinein.«
Leo öffnet die Tür zur Wohnung, und wir treten ein. Sie hat sich nicht sehr verändert, seit ich hier war. Es ist eine Vierzimmerwohnung, zwei Bäder, ein großes Wohnzimmer und eine sehr große Küche. Am bemerkenswertesten ist die Tatsache, dass Annie überall ist. Sie lebt durch die Einrichtung, das Wesen dieser Wohnung. Blau war schon immer ihre Lieblingsfarbe, und ich sehe Blau in den Vorhängen, eine blaue Vase, eine Fotografie mit einem strahlend blauen Himmel. Die Wohnung hat Stil. Sie besitzt eine mühelose Eleganz, ohne goldenen Firlefanz oder vergoldeten Zierrat. Alles passt, doch nicht auf jene irritierend zwanghafte Weise, es anderen unbedingt gleichtun zu müssen. Die Wohnung ist ein Beispiel unauffälliger Schönheit. Sie wirkt souverän.
Annie hatte schon immer diese Gabe. Die Fähigkeit zu schmücken, ohne darüber nachdenken zu müssen. Alles, angefangen bei ihrer Kleidung bis hin zur Uhr an ihrem Handgelenk, war immer ohne Ausnahme chic, ohne arrogant oder kopiert zu wirken. Elegant und unaufdringlich. Es war ihr angeboren, und ich habe es stets als Beweis für Annies innere Schönheit betrachtet. Sie hat die Dinge nicht wegen der Wirkung ausgewählt, die sie damit bei anderen erzielen konnte. Sie hat sie ausgewählt, weil sie sich von ihnen angesprochen fühlte. Weil sie zu ihr passten. Die Wohnung spiegelt dies wider. Sie atmet den Geist von Annies Seele.
Doch hier ist noch etwas präsent.
»Riecht ihr das?«, fragt Alan. »Was ist das?«
»Parfum und Blut«, murmele ich.
»Zum Computer geht es hier entlang«, sagt Leo. Er führt uns ins Schlafzimmer.
Hier stirbt die Harmonie. Dies ist der
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