Die Blutlinie
Ort, an dem er sein Werk getan hat. Es ist das bewusste Gegenteil zu Annies zwangloser Schönheit. Hier hat jemand absichtlich Dissonanz hervorrufen wollen. Die Erhabenheit zerbrechen. Etwas Exquisites zerstören.
Der Teppich ist blutbefleckt, und der starke Verwesungsgeruch, vermischt mit dem Duft von Annies Parfum, steigt mir in die Nase. Es sind zwei Gegensätze: einerseits der Duft des Lebens, zum anderen der Gestank des Todes. Ein Tisch liegt umgeworfen auf der Seite, eine Lampe ist zerschlagen. Die Wände sind zerkratzt, und das gesamte Zimmer strömt etwas Verzerrtes, Unrechtes aus. Der Mörder hat es durch seine Anwesenheit vergewaltigt.
Leo setzt sich an den Computer. Ich denke an Annie.
»Fangen Sie an«, sage ich zu ihm.
Leo wird blass. Dann bewegt er die Maus und schiebt den Pfeil auf eine Datei, die er mit einem Doppelklick öffnet. Der Schirm füllt sich, und der Film beginnt. Mir bleibt fast das Herz stehen, als ich Annie sehe.
Sie ist von Kopf bis Fuß nackt und mit den Händen ans Bett gefesselt. Übelkeit steigt in mir auf, als ich daran denke, dass ich in der gleichen Lage gewesen bin. Joseph Sands. Ich reiße mich zusammen.
Der Mörder ist ganz in Schwarz gekleidet. Er trägt eine Kapuze, die sein Gesicht verdeckt.
»Ist das etwa ein beschissenes Ninja-Kostüm?«, poltert Alan. Er schüttelt angewidert den Kopf. »Meine Güte! Es ist alles nur ein verdammter Witz für diesen Bastard!«
Mein Talent als Jägerin übernimmt automatisch die Führung. Der Killer scheint etwa eins achtzig groß zu sein. Er ist gut in Form – eine Mischung aus muskulös und drahtig. An der Haut um seine Augen erkenne ich, dass er ein Weißer ist.
Ich warte darauf, dass er spricht. Die Stimmerkennungstechnologie ist heutzutage hochentwickelt, und sie könnte einen entscheidenden Hinweis liefern. Doch dann verschwindet er aus dem Blickwinkel der Kamera. Ich höre leise Geräusche im Hintergrund, wo er mit irgendetwas hantiert. Als er wieder zu sehen ist, blickt er direkt in die Linse, und an den Fältchen um seine Augen hinter der Maske erkenne ich, dass er hinter seiner Maske grinst. Er hebt eine Hand und zählt mit den Fingern, 1, 2, 1 – 2 – 3 – 4 …
Musik erschallt im Zimmer. Sie ist so laut, dass sie jedes andere Geräusch übertönt. Es dauert nur einen Augenblick, bis ich sie einordnen kann. Als es geschieht, wird mir fast übel. Fast.
»Mein Gott!«, flüstert Charlie. »Sind das die Rolling Stones?«
»Genau. ›Gimme Shelter‹«, bestätigt Alan. Seine Stimme klingt gepresst vor Wut. »Das findet dieser kranke Drecksack witzig. Ein wenig Stimmungsmusik für sein widerliches Tun.«
Die Lautstärke ist hoch, das Lied laut. Als es schneller wird, fängt der Mörder vor der Kamera zu tanzen an. Er hält ein Messer in der Hand, und er tanzt für Annie und die Kamera. Es ist rasend, wahnsinnig, doch er bewegt sich im Takt. Irresein im Rhythmus.
»… raaaape and murder … «
Das ist der Grund, weshalb er dieses Stück ausgewählt hat. Das ist seine Botschaft. Sie passt zu meinen Gedanken, die ich vorhin gehabt habe. Was er tun kann, liegt immer nur einen Schritt weit weg. Ich schließe für einen Moment die Augen, als ich sehe, dass Annie dies ebenfalls erkannt hat. Ich kann es an ihrem Gesicht ablesen, an ihren Augen. Namenloses Entsetzen, gemischt mit Hoffnungslosigkeit.
Der Mörder hat aufgehört zu tanzen, auch wenn er sich noch im Rhythmus der Musik bewegt, beinahe unbewusst, wenigstens sieht es so aus. Wie jemand, der mit dem Fuß den Rhythmus zu einem Lied tappt, ohne es zu merken. Er steht neben dem Bett, die Augen auf Annie gerichtet. Er scheint fasziniert. Annie kämpft gegen ihre Fesseln. Ich kann nichts hören wegen der Musik, doch ich sehe, dass sie durch ihren Knebel hindurch schreit. Er wirft einen weiteren Blick in die Kamera. Dann beugt er sich mit dem Messer vor.
Der Rest ist genauso, wie Leo es gesagt hat. Eine Montage. Ein Schnitt folgt dem anderen: Annies Folter, ihre Vergewaltigung, ihr Entsetzen. Das Messer ist sein Werkzeug, und er benutzt es beinahe bedächtig. Er liebt es, langsam zu schneiden, und er liebt lange Schnitte. Er berührt sie überall mit seiner Klinge. Ich zucke jedes Mal zusammen, wenn neue Bilder über den Schirm blitzen. Es fährt mir durch Mark und Bein, als würde ich einen Stromschlag von einer Autobatterie bekommen. Szene, Schock, Zusammenzucken, Annie wird gefoltert. Szene, Schock, Zusammenzucken, Annie wird vergewaltigt. Szene, Schock,
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