Die Blutmafia
und sah ihn aus seinen dunklen Augen an. »Es gibt verschiedene Statistiken. Die Meinungen der Fachleute gehen da auseinander. Und frag mich nicht, wer wen bescheißt. Aber im Durchschnitt, behaupten sie, die Übertragungswahrscheinlichkeit bestehe zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Prozent.«
Und wären es nur fünf Prozent gewesen, dachte er, es wäre zuviel …
»Und das Kind?«
»Auch dies ist schwer zu sagen.«
»In Prozenten«, forderte er.
»In Prozenten? Verdammt noch mal, damit solltest du dich in diesem Augenblick nicht beschäftigen. Wirklich nicht! Bei möglichen Übertragungen spielen so viele Faktoren eine Rolle. Jeder Fall liegt völlig anders. Dieter, es gibt Wichtigeres zu tun.«
»Ja«, sagte er, und die beiden ›K's‹ kamen wieder ins Spiel: Kalt und klar entscheiden!
Er stand auf.
»Was ist denn? Wo willst du hin?«
Er sah auf Jan herab, auf die schwarzen Härchen, die auf seinem Handrücken wuchsen, auf seine beginnende Glatze.
»Du wirst Hanne nicht anrufen. Versprichst du mir das?«
»Natürlich versprech' ich das, wenn du darauf bestehst. Aber warum?«
»Kein Warum, Jan. Du wirst es nicht tun. Zumindest heute nicht.« Dann drehte er sich um.
»Wo willst du hin? He, Dieter!«
Er wußte später nicht, wie er aus Jans Praxis gekommen war, wieso seine Beine ihn noch trugen. Immerhin, er hatte seinen Willen. Den gab es. Und auf ihn kam es an …
»Darf ich Ihnen vielleicht noch etwas zu trinken geben? Ich meine, haben Sie sonst noch irgendwelche Wünsche?«
Sie trug einen leuchtendgrünen, weitfallenden Baumwollpulli zu ihren Leggings. Sie hatte die blonden Haare hochgesteckt, besaß ein hübsches Gesicht, einen hübschen Hals und sehr freundliche braune Augen. Sie musterte ihn schüchtern.
Vor Reissner stand ein Glas Tee. Er hatte es leergetrunken. Aber wie war es auf seinen Tisch gekommen? Es war das erste Mal, daß er die Bedienung überhaupt wahrnahm.
»Na gut, bringen Sie mir was.«
»Was denn?«
»Irgendwas … Tee.«
Er drehte den Blick wieder der Glasscheibe zu. Es gab zwei Verkaufsstände da draußen, direkt neben dem Einstieg zur S-Bahn. An den Ständen wurde alles feilgeboten: Obst, Gemüse, Berge von Äpfeln, Bananen. Die meisten Passanten gingen vorbei, andere blieben tatsächlich stehen und kauften etwas. Der Verkehr war jetzt so dicht, daß bereits Stoßstange an Stoßstange gefahren wurde. Dort hinten aber, gar nicht so weit weg, dort drüben war das alte Haus, wo im ersten Stock sein Freund Herzog wahrscheinlich darüber brütete, was im Fall Reissner wohl zu tun sei …
Nichts, Jan!
Doch. Es gab noch eine Aufgabe. Wichtig oder nicht, er wollte sie vom Hals bekommen.
Das Mädchen mit dem grünen Pulli brachte seinen Tee.
»Haben Sie ein Telefon hier?«
»Ja. Dort drüben in der Zelle.«
Sie hatten auch eine Zelle. Um so besser!
Er zog die Tür hinter sich zu, aber in der Enge wurde ihm so übel, daß er fürchtete, ersticken zu müssen. So öffnete er sie wieder. Sollte doch ruhig jeder mithören, was es zu sagen gab. Jeder. Falls es noch irgend jemanden interessierte.
Er bekam Linder ohne die üblichen Schwierigkeiten an den Apparat. Lotte Frahm, Linders Vorzimmerlöwin, verschluckte sich fast vor Überraschung, als er seinen Namen nannte.
»Sie, Herr Reissner? Lieber Himmel, wenn Sie wüßten …«
»Ich weiß«, sagte er. »Und jetzt geben Sie ihn mir bitte.«
Es knackte kurz, dann seine Stimme.
»Linder. Ach nein? Es gibt Sie also doch noch, Reissner? Dann kann ich Ihnen ja gleich sagen, daß ich in meinem Job schon allerhand erleben mußte. Aber Ihr Verhalten schlägt alle Rekorde.«
»So«, sagte er nur.
Das ›so‹ schien dem großen Boß nicht zu gefallen. Pause.
»Jetzt hören Sie mir mal zu, Dieter …«, fing er dann an.
»Nein, Jakob, jetzt hören Sie zu.« Dieses ganze Dieter-Getue – warum sollte er ihn nicht ›Jakob‹ nennen? »Sie können auch auflegen, falls Ihnen das Spaß macht. Aber vielleicht ist es ganz interessant, was ich Ihnen zu sagen habe.«
»Wie reden Sie eigentlich? Was ist in Sie gefahren?«
»Oh, nichts Besonderes. Das trage ich schon lange mit mir herum. Kam mir nur einfach heute mal wieder hoch. Ich wollte Sie fragen …«
»Sie stellen Fragen? An mich? Ja, sind Sie übergeschnappt?«
»Wieso? Heißt Fragen stellen für Sie übergeschnappt zu sein? Übrigens: Überrascht mich nicht …«
Da war nur ein Schnaufen am anderen Ende der Leitung.
»Jakob, haben Sie eigentlich schon mal überlegt, was Sie
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