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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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sich um und sah, dass Alice einen kleinen Packen Karten von einem Regal nahm. Sie sortierte sie, wählte eine aus und legte sie mit dem Bild nach oben auf den Tisch. Sie betrachtete sie eine Weile schweigend. Dann schloss sie die Augen und verteilte die restlichen Karten mit dem Bild nach unten auf dem Tisch, mischte sie mit großen Kreisbewegungen und schwankte dabei mit dem ganzen Körper vor und zurück. Dann öffnete sie die Augen, sammelte die Karten wieder zusammen, hob einige mit der Linken ab und legte sie zur Seite. Von dem übrigen Stapel zog sie eine Karte und legte sie auf den Tisch, links unter die schon ausgewählte. Obwohl das Bild ihr vertraut sein musste, nahm sie es beinahe wie in Trance auf. Sie drehte eine andere Karte um und legte sie rechts neben die zweite Karte, musterte auch diese genau, dann eine vierte, die rechts von den anderen drei nun eine Linie mit ihnen bildete. Dann räumte sie den Stapel zur Seite, stemmte die Handflächen auf den Tisch und lehnte sich anscheinend eine Ewigkeit über die Karten.
    Was Alice auch aus den Karten las, Carla konnte es ihr nicht ansehen. Sie wartete. Eine weitere Wehe kam. Carla stützte sich auf den Knien ab und gab sich in den Schmerz. Die Kraft war ungeheuer, schreckte sie aber nicht mehr. Jetzt hatte sie die Kraft. Die Geburt war nichts mehr, das ihr widerfuhr. Sie war der Natur nicht mehr ausgeliefert. Die Natur und sie arbeiteten zusammen. Die Wehe verebbte.
    Alice setzte sich auf ihrem Stuhl zurück und winkte Carla zu sich her.
    Die erste Karte, die Carla sah, war der Tod. Sie wandte die Augen ab.
    »Also«, sagte Alice, »was sollen wir zwei Hexen nun davon halten?«



KAPITEL 14

E IN BRENNENDER M ENSCH
    Unten an der Wendeltreppe angekommen, schloss Tannhäuser die Tür ab und hängte Juste den Schlüssel um den Hals. Die Zwillinge saßen in der Kirchenbank und tranken Suppe aus Holzschalen. Keine Spur von gebratenem Geflügel.
    Die Mädchen winkten ihm zu und lächelten ihr gequältes aufgemaltes Lächeln, zweifellos auf Anordnung ihres Kupplers. Die Suppe hatte die Schminke ihrer Lippen verschmiert. Die schwarz umrandeten Augen in den bleiweißen Gesichtern waren voller Angst. Diese Angst hatte er schon am Tor von Saint-Jacques gesehen.
    Tannhäuser wandte sich ab.
    Tybaut war nirgends zu sehen.
    Tannhäuser verließ die Kathedrale durch das Hauptportal und blieb stehen.
    Frisches Blut schimmerte in einer großen Lache auf dem Vorplatz, und die granatrote Oberfläche war so angespannt wie ein Kügelchen Quecksilber. Die Blutlache verbreiterte sich und sickerte in die Ritzen zwischen den Steinplatten. Vier Männer, denen man mit ungewöhnlicher Gründlichkeit wie Schlachtvieh die Kehle durchgeschnitten hatte, waren für diese Blutströme verantwortlich. Manhatte ihre Leichen auf einen Haufen geworfen, ihre schwarzen Gewänder waren blutgetränkt und glänzten im Morgenlicht.
    Tannhäuser beobachtete, wie der bärtige Hauptmann, den er vom Turm aus gesehen hatte, einem fünften Hugenotten die Kehle durchschnitt. Er tat das mit dem großen Geschick, das schwierige Arbeiten einfach erscheinen lässt: mit einem einzigen tiefen Schnitt eines Messers, das so oft geschärft war, dass die Klinge schon sichelförmig war. Wie aus einer Kehle stöhnte die versammelte Menge auf, Katholiken und Protestanten zumindest für kurze Zeit im Schaudern über diesen Tod vereint.
    Der Hauptmann war ein riesiger Kerl, und als die kurze, aber heftige Blutfontäne sich in die Lache verströmt hatte, schleifte er die Leiche mit einer Hand fort und warf sie auf den Haufen.
    Tannhäuser spürte, wie Juste das Gesicht an seinen Rücken schmiegte. Er hielt Ausschau nach Clementine, aber die große graue Stute war nirgends zu sehen.
    Die Zuschauermenge dieses Mordens setzte sich aus der Bürgermiliz und ihren Gefangenen zusammen, dazu kamen noch die blutrünstigen Bettler und Bürger, die in überraschend großer Zahl zu bleiben beschlossen hatten. Der bärtige Hauptmann blickte Tannhäuser an. Der starrte zurück. Der Hauptmann kaute auf seinem Schnurrbart herum. Wie viele Männer hier hatte er sich rote und weiße Bänder um den Arm gebunden. Er schaute zu Tannhäusers Füßen. Der wusste, dass ihm der Blutsee beinahe an die Stiefel schwappte. Als das Blut ihn erreichte, ging er ihm nicht aus dem Weg. Ein Raunen lief durch die Bürgermiliz.
    Der Hauptmann forderte mit erhobenem Arm Ruhe ein, nahm wohl übel, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr ihm galt.
    »Wir haben uns

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