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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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bestrichen und mit in Wachs getauchten, geflochtenen Weidenzweigen versiegelt. Carla schnitt den Verschluss ab, und ein süßer Duft stieg aus dem Gefäß auf. Sie hatte großen Hunger. Der Topf war bis zum Rand mitflüssigem Honig und Pfirsichhälften gefüllt. Sie löffelte die kleinen Schalen voll.
    »Das riecht köstlich, aber nach mehr als nur nach Honig und Pfirsichen.«
    »Weiter unten findest du auch noch gewürfelte Quitten. Die sind das Beste. Und spar nicht am Honig, gieße ihn drüber, als hinge unser Seelenheil davon ab. Wir sollten das Gefäß leeren, ehe mein Sohn zurückkommt. Ein Wunder, dass es so lange gehalten hat.«
    »Wohin ist Grymonde gegangen?«
    »Diese alte Frau hat gelernt, nicht zu fragen.«
    »Aber er kommt zurück?«
    Carla fühlte sich hier sicher; aber mit Grymonde würde sie sich noch sicherer fühlen.
    Alice sagte: »Die große Schüssel ist für dich, falls dir schlecht wird.«
    »Mein Fruchtwasser trieft immer noch.«
    »Der Boden hat schon Schlimmeres abbekommen. Sag nur, wenn es grünlich oder blutig ist.«
    »Darf ich beim Essen stehen? Das ist bequemer.«
    »Bitte. Das bringt das Kind auf den Weg.«
    »Wirklich? Ich würde mich auch auf den Kopf stellen, wenn du es mir rätst. Nur haben mir die anderen Hebammen immer gesagt, ich sollte den ganzen Tag im Bett liegen.«
    Alice beschränkte ihren Kommentar auf ein Grunzen und ein verächtliches Verziehen der Lippen.
    »Warte, bis die Ärzte uns in die Finger bekommen, was sie natürlich schon längst planen. Dann verdienen die Totengräber und Priester sicher ein Vermögen.«
    Alice nahm sich eine Schüssel, und sie aßen. Carla lobte das Essen, während Alice schlürfte und seufzte und schmatzte. Carla verspürte eine tiefe Zärtlichkeit für die alte Frau. Das Gefühl war so tief, dass sie nicht wusste, was sie damit anfangen sollte, dass sie wieder Tränen auf den Wangen fühlte. Alice schob ihre leere Schale über den Tisch, und Carla füllte sie erneut und goss mehr Honig darüber. Eine Träne fiel in die Schale, und sie entschuldigte sich. Sie stellte das Gefäß ab und nahm einen Schluck Hagebuttentee.
    »Unsere Mutter heißt all die Tränen ihrer Kinder willkommen, Liebes. Sie erinnern sie daran, dass wir alles wert sind, was wir sie gekostet haben. Und Glückstränen am allermeisten. Hier, lass uns den Tee aufwärmen.«
    »Nein, kalt kann man den Honig gut damit herunterspülen.«
    Carla trank erneut und fasste sich. Sie war so viele Gefühle nicht gewöhnt.
    » Spiel für sie «, flüsterte Amparo.
    Ihre Stimme war so klar zu hören, dass Carla herumfuhr. Sie sah kein Licht, keinen Schein und war enttäuscht, aber ihre Augen fielen auf den Gambenkasten, der im Gerümpel lehnte.
    »Was hat sie gesagt?«, fragte Alice.
    »Sie hat mir gesagt, ich sollte für dich spielen.«
    »Die Fiedel gehört dir, das ist keine Beute? Als bräuchten wir noch mehr Zeug.«
    »Grymonde hat mir nichts weggenommen. Ich weiß nicht warum. Er ist so …« Carla zögerte. Sie wusste nicht, wie sie weitersprechen sollte.
    »Mein Sohn ist verrückt, blutrünstig und wunderschön. Seine Angelegenheiten sind seine, und deine sind deine, diese alte Frau ist nicht neugierig. Aber seine Herrschaft hört an meiner Haustür auf, wenn er dich also beunruhigt, sag es uns.«
    »Ich bin nicht seine Gefangene. Das glaube ich zumindest.«
    »Dabei wollen wir es belassen. Geht es dir gut genug, dass du spielen kannst?«
    »Bis die nächste Wehe kommt, ja.«
    »Du kannst zu einem Engel nicht nein sagen, Liebes. Und wir anderen würden auch gern zuhören.«
    Als Carla den Gambenkasten nahm, überkam sie die nächste Wehe, und sie war froh darum, denn sobald sie verebbte, würde sie Zeit zum Spielen haben. Sie lehnte sich auf den Kasten und ergab sich dem Schmerz. Die Wehe war noch heftiger als die vorige, und hinter Carlas zusammengekniffenen Lidern tanzten farbige Lichter. Aber sie kostete sie weniger Kraft als die, die sie im Hof beinahe hingestreckt hätte. Ihr wurde klar, wie viel Angst sie da gehabt hatte. Sie reckte sich. Sie öffnete den Kasten, nahm die Gambe und den Bogen heraus und setzte sich auf die Stuhlkante.
    Ihr Bauch wölbte sich über ihre Oberschenkel, aber so weit sie auch die Beine spreizte, das Kind hatte sich so verlagert, und ihre Muskeln waren so angespannt, dass sie kaum den Bogen führen konnte. Sie hob das Instrument vom Boden, schloss die Beine, lehnte die Gambe an die Außenseite ihres linken Oberschenkels und verdrehte den

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