Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
Vom Netzwerk:
Alice legte eine Hand auf ihre und beobachtete sie aufmerksam, aber ohne Besorgnis. Diese Sorglosigkeit war willkommen. Carlas vorherige Niederkünfte warenwilde Wirbel der Ängste gewesen, größtenteils nicht ihrer eigenen Ängste. Carla schlug die Augen auf und merkte, dass die gezogenen Karten nur wenige Zoll von ihrem Gesicht entfernt lagen.
    Die Dreierreihe, die der Zufall und Alices Seele ausgewählt hatte.
    Die erste Karte zeigte den Gehängten, auf dem Kopf stehend.
    Die zweite eine ganz in Rot gekleidete Gestalt, die sie nicht erkannte, auch auf dem Kopf.
    Auf der dritten war ein Bettler abgebildet, ohne Schuhe und in geflickten Lumpen. In seine goldenen Locken waren Federn und Blumen geflochten, und über der rechten Schulter trug er einen Stab, als wäre er sich nicht sicher, warum er das tat und was er damit anfangen sollte. Er war jung, und in seinen schwarzen Augen lag Mitleid, als verfolgte ihn alles, was er auf der langen Straße gesehen hatte. Er stand allein da, den Rücken zu einem dunkelblauen Horizont gewandt – einem Ozean, einem Fluss, einem Abgrund –, als könnte er nicht weitergehen. Insgesamt schien er sich verirrt zu haben.
    Die ersten beiden Karten waren Holzschnitte. Der Bettler war ein wunderschönes Gemälde. Ebenso die vierte Karte, die Alice am Anfang ausgewählt und über die anderen gelegt hatte. Carla hatte es vermieden, diese letzte Karte anzuschauen, denn sie konnte deren Namen kaum leugnen; doch nun schaute sie sie an.
    Der Tod, die Knochen mit einem Gewand aus krokusgelbem Stoff umhüllt, ritt ohne Sattel auf einem wilden Rappen. Um den grinsenden Schädel war knapp über den Augenhöhlen ein langes weißes Band geknüpft, das fröhlich hinter ihm herflatterte. Über dem Kopf schwenkte er eine riesige schwarze Sense, deren Schaft mit Gold verziert war.
    Nie hatte der Schnitter greller, fröhlicher oder wahnsinniger ausgesehen.
    Sein Pferd mit den gefletschten Zähnen, der scharlachroten Zunge und den dämonischen Augen war beinahe genauso schrecklich. Es galoppierte auf den linken Rand der Karte zu. Unter seinen Hufen zertrampelt lagen – auf einer Wiese mit Gänseblümchen – die Leichen eines Königs, eines Bischofs und zweier Kardinäle, die einen toten Papst einrahmten, vielleicht Petrus persönlich, denn auf seiner rechten Hand prangte eine Nagelwunde.
    Nun ja, dachte Carla, als ihre Wehe verebbte, der Künstler hatte seinen Standpunkt sehr deutlich gemacht.
    »Wenn diese tiefen Gedanken dich erschöpfen, können wir aufhören. Ich bin fertig.«
    »Diese Gedanken schützen mich nicht nur vor Erschöpfung, sie fesseln mich sogar. Aber darf ich fragen, wenn wir die Zukunft nicht kennen können, was sagen uns dann die Karten?«
    »Was geschehen wird, ist nicht wichtig – denn was geschieht, ist das Leben selbst, und das tanzt nur zu seiner eigenen Melodie. Es kommt darauf an, wie wir an dem Geschehen teilhaben, wie wir daraus eine bestimmte Zukunft und nicht irgendeine andere machen. Wenn wir darauf hören, wer wir waren und wer wir sind, kann uns unsere Seele zeigen, was wir sein können, und uns so besser darauf vorbereiten, was wir in der Zukunft sein werden – oder nicht sein werden.«
    Carla schaute erneut auf den Bettler. »Wo hast du all das gelernt?«
    »Diese Frau hat das nicht gelernt. Sie hat vielmehr herausgefunden, dass sie es wusste. Zweifellos machen die klugen Leute schon wieder Regeln und sagen, dass sie nicht weiß, was sie tut, aber es muss ja niemand auf sie hören.«
    »Ich höre zu.« Carla zeigte auf die gezogenen Karten. »Wie heißen die?«
    Alice deutete nacheinander darauf.
    »Der Gehängte. Der Gaukler. Der Narr.«
    »Warum hast du den Tod ausgewählt?«
    »Die wissentlich gewählte Karte steht für die Fragende und ihre Frage. Sie überblickt die ganze Geschichte und sieht, was jenseits liegt. Lass dich nicht davon beunruhigen. Meine Frage hatte nichts mit dir oder deinem Kind zu tun.«
    »Die Karten scheinen dir eine grausige Geschichte zu erzählen. Was sagen sie?«
    »Jede Karte spricht immer neu, denn sie soll die ungesehenen Bilder heraufbeschwören, die sich in der Seele der Fragenden verbergen und die im Umkreis der Frage lauern, damit die Fragende sie auffangen kann. So wie ein Hund Vögel aus dem Gebüsch aufscheucht. Und ja, in gewisser Weise sind es grausige Ereignisse.«
    Sie deutete von links nach rechts auf die drei Karten.
    »Diese alte Frau sieht diese Bilder als Ganzes, vor und zurück, kopfüber. Sie kennt sie so gut wie

Weitere Kostenlose Bücher