Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Gestalten, nur Umrisse, gesellten sich zur Familie. Mattias hatte Tränen im Gesicht, Glückstränen, hoffte sie. Sie spürte, dass die Karten am Tisch zu haften schienen, und hörte zu mischen auf.
Alice sammelte die Karten zusammen. »Hebe mit der Linken ab. Dann sehen wir, was die Anima Mundi sieht.«
Carlas Hand zögerte über dem Stapel, und sie spürte einen Hauch Furcht. Alice saß da, die Hände im Schoß, zusammengesackt, die Augen auf die Seele der Welt gerichtet. Sie beachtete Carla nicht. Die hob die Karten ab. Alice nahm den Rest und zog die erste Karte.
»Das Gericht, umgekehrt.«
Carla beobachtete, wie Alice das vielgliedrige Bild mit seinen unzähligen Figuren betrachtete. Sie schien ihre Gedanken völlig geleert zu haben, als wartete sie darauf, dass Worte auftauchen würden.
Endlich sprach Alice. »Gewogen und zu leicht befunden.«
Sie drehte die Karte richtig herum, und Carla sah sie mit wachsendem Entsetzen. Zwei Engel mit grünen Flügeln und scharlachroten Gewändern hingen von den Wolken und bliesen in silberne Trompeten. Unter ihnen kletterten sieben nackte Männer und Frauen aus einem roten Grabgewölbe. Manche warfen freudig dieArme hoch, andere bedeckten beschämt oder zweifelnd ihre Nacktheit. Carla biss sich auf die Zunge, wagte es nicht, die Stimmung zu zerstören. Die Karte teilte ihr zumindest eines mit, das sie bereits wusste: Sie hätte nie nach Paris kommen dürfen. Aber dann wäre sie jetzt nicht hier bei Alice, an dem einzigen Ort, an dem sie sein wollte.
Alice nahm die nächste Karte.
»Der Turm.«
Der dunkle, massive Turm auf dem Bild beschwor in Carla Erinnerungen an die Belagerung von Malta herauf. Sie war in blutgetränkten Kleidern durch den Schlamm auf diesen Festungsanlagen gewatet und hatte den Sterbenden ihr Herz geschenkt. Eine Seite des Turms stürzte ein, die Steine schmolzen, glitten auseinander, und Flammen schossen zwischen ihnen heraus, obwohl der Künstler sie eher wie Blutströme gemalt hatte, als hätten die die Steine zusammengehalten. Ein hoher, schwarzer Torbogen führte unten in den Turm, und über seine Schwelle züngelten mehr rote Flammen. Carla war entsetzt.
»So wird das Fegefeuer dargestellt. Und alle unsere Messingketten werden gebrochen.«
Carla wollte Alice beinahe bitten, aufzuhören. Sie spürte, was die nächste Karte sein würde; aber sie würde sich nicht aufhalten lassen. Vielleicht konnte nur sie ihr in einem so finsteren Drama wie diesem hier zu Hilfe kommen. Alice wandte sich ihr zu, und ihre Blicke trafen sich. Alices Gesicht war entspannt und träumerisch.
Alice zog den Tod und legte die Karte hin, ohne sie anzuschauen.
»Ich brauche weder Gold noch Reichtümer, weder die Gunst von Prinzen noch von Päpsten, denn mir gehört die Welt. Ob ich früh oder spät komme, all ihr Lebenden werdet für mich tanzen.«
Alice wandte sich wieder den gezogenen Karten zu. Carla tat es ihr nach. Sie wartete darauf, dass Alice ihr erklären würde, warum die Geschichte, die sie erzählten, doch nicht so schrecklich war. Aber die Alte wägte die Karten schweigend ab.
»Gericht, Turm und Tod«, sagte Carla. »Einen Augenblick lang habe ich befürchtet, ich würde etwas Schreckliches ziehen. Aber für mich kämpft ein mächtiger Held. Und auch er reitet ein wildes Pferd.«
Sie deutete auf das Skelett mit seinem flatternden weißen Band und dem strahlend gelben Gewand.
»Sieh nur, er sprengt zurück und auf das Feuer zu.«
»Die Anima Mundi deine Frage stellen zu lassen, das war schon ziemlich mutig – und sie hat kein Blatt vor den Mund genommen –, sich aber den Tod als den Helden zu wählen, der für dich kämpft, das könnte unbedacht sein.«
»Ich scherze, um mein Entsetzen zu lindern. Bitte vergib mir, dass ich dein Nachdenken gestört habe.«
»Sag mir deine Frage.«
»Ich möchte das Gesicht meines Mannes sehen, wenn er unser Kind hält. Ich will wieder mit meiner Familie vereint sein. Was muss ich tun – wie muss ich sein –, um das zu erreichen?«
Alice schaute auf die Karten. Sie spitzte die Lippen. Zog eine Braue hoch, ließ sie wieder sinken.
Die nächste Wehe überfiel Carla ohne Vorwarnung. Ihre Macht war gewaltiger als alles bisher, und sie raubte ihr den Atem. Der Schmerz war entsetzlich. Carla klammerte sich stumm am Tisch fest. Sie beugte sich vornüber, und der Druck auf ihre Hüften war so stark, dass sie in die Hocke sank. Sie keuchte. Die Wehe unterwarf sie ihrem Willen. Carla ließ den Tisch los und ging auf
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