Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Carla blähte ihre Backen auf und schaute Alice an. Die zwinkerte ihr zu, und Carla lächelte bitter. Sie fragte sich, warum sie nicht das Bedürfnis hatte, sich hinzusetzen oder auf den Rücken zu legen; ihre Oberschenkel bebten, und doch blieb sie auf den Beinen.
Alice fuhr fort: »Dem Narren wird alles geraubt, was er hat, was am kostbarsten ist, nicht für ihn, sondern für uns. Und das Kostbarste ist Nichts. Er wird sogar seine Lumpen verlieren, vergessen und verdammt sein, und anstelle seiner Wahrheiten werden wir tönende Glocken haben. Viele Glocken. Aber Glocken sind beliebt, die lange Straße ins Nichts ist es nicht. Genau das haben sie Jesus angetan und unserer Mutter Natur und vielen anderen mehr. Schließlich schlagen sie alle diesen Weg ein. Aber verzeih mir, ich habe eine gute Frage gestellt.«
»Was war deine Frage, dass du sie vom Tod hast stellen lassen?«
»Eine Frage, die nur eine alte Frau stellen kann.«
»Danke, dass du mir einen Teil der Antwort gesagt hast.«
Alice nahm die vier Karten zusammen, drehte sie um und fügte sie wieder in den Kartenstapel ein. Die Leere, die sie zurückließen, war so stark, dass Carla zu ihrem Entsetzen begriff, wie wirklich ihre Gegenwart gewesen war.
Alice reichte ihr den Stapel.
Carla zögerte. »Ich weiß nicht genug darüber.«
»Wenn du nicht fragen willst, macht es dieser Frau nichts aus.«
»Alice, ich weiß nicht einmal, was ich fragen soll. Ich weiß nicht, wie.«
»Lass deine Karte die Frage stellen.«
»Aber welche Karte?«
»Du weißt es, wenn du sie siehst. Sie ist da, wartet auf dich inmitten der zweiundzwanzig. Die richtige Karte für dein Hier und dein Jetzt. Zu einer anderen Zeit ist es eine andere oder dieselbe Karte unter einem anderen Blickwinkel. Keine Sorge, denke nicht nach, zögere nicht, vergleiche nicht. Ich sage dir die Namen, damit du nicht rätseln musst. Schau einfach. Und wenn du wählst, dann schnell.«
Carla nahm die Karten und mischte sie verdeckt. Sie waren verschieden groß und stammten, den Mustern auf der Rückseite nach zu schließen, aus vier verschiedenen Spielen. Carla fragte nicht, ob das Zufall oder Absicht war.
»Du kannst sie richtig mischen, ehe du sie befragst.«
Carla begriff, dass sie jetzt nicht mischen musste. Sie drehte die erste Karte um.
Alice sagte: »Die Liebenden.«
Carla zwinkerte. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr gleich ein so mächtiges Thema ins Auge springen würde. Das Bild zeigte einen Amor mit verbundenen Augen über einem Hochzeitspaar. Aber das Bild gehörte in eine andere Zeit, nicht hierher. Sie legte die Karte verdeckt auf den Tisch und drehte die nächste um.
»Das Rad des Lebens.«
Carla legte die Karte weg und drehte das Bild eines finsteren Wehrturms um.
»Der Turm.«
»Der Gaukler.«
»Der Herrscher.«
»Der Mond.«
»Der Stern.«
»Der Teufel.«
»Der Narr.«
»Die Kraft.«
Eine Frau, die das Maul eines Löwen zuhielt. Carla hielt inne, legte dann die Karte fort.
»Die Sonne.«
»Der Triumphwagen.«
Carla drehte eine weitere Karte um und wusste, dass sie ihre Fragestellerin gefunden hatte. Eine Frau in einem blutroten Kleid stand auf einem grünen Kreis, der auf einer Masse blauer Wolken schwebte. In dem Kreis sah man Berge und auf den Bergen befestigte Städte. Die Frau hielt ein Zepter und einen goldenen Reichsapfel, und hinter ihrem Kopf glänzte ein silberner Heiligenschein. Die Frau schien nur mit Mühe das Gleichgewicht zu halten, als drehte sich die Erde, als Carla den Kreis interpretierte, unter ihren Füßen. Aber sie war nicht heruntergefallen. Noch nicht.
»Das ist die Karte. Ich habe ein rotes Kleid getragen, als ich Mattias kennenlernte. Der Kreis ist eine Art Schoß. Und sie hat gewiss eine gute Aussicht.« Sie zeigte Alice die Karte. »Wer ist sie?«
»Sie ist die Kraft, die Anima Mundi, die Seele der Welt. Eine mutige Wahl.«
Carla hörte den warnenden Ton; aber dieser Tag hatte sie zu dieser Wahl gezwungen.
»Denke an deine Frage, und mische die Karten, wie ich es gemacht habe. Wenn sie sich schwer anfühlen, höre auf und lass sie mich zusammennehmen.«
Carla breitete die Karten verdeckt auf dem Tisch aus und mischte sie. Sie schloss die Augen, um ihre Frage zu formulieren. So viele schwebten ihr durch den Kopf, aber ein Thema herrschte vor. Ihre Familie. Ihr Kind. Orlandu. Mattias. Würden sie jemals wieder vereint? Würde Mattias jemals ihr Kind im Arm halten? Sie ließ ein Bild von ihnen allen zusammen entstehen. Andere
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