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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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benutzten. Sie hatte die Karten nie befragt, weil die katholische Lehre sie davor gewarnt hatte. Aber sie wusste, dass Mattias es schon getan hatte. Die Karten auf dem Tisch jagten ihr Schauer über den Rücken.
    »Liest du die Karten?«, fragte Alice.
    »Nein.«
    »Aber du hast ein Gespür dafür.«
    »Die Kirche verbietet alle Arten von Wahrsagerei.«
    »Dafür können wir nur dankbar sein, denn die würden es nur zu üblen Zwecken verwenden, wie die meisten anderen Dinge, die sie sich angeeignet haben. Sag mir, wenn es dir zuwider ist.«
    »Ich vertraue dir.«
    »Ein bisschen mehr Bereitschaft musst du schon zeigen, sonst verschließt du dich gegen dein eigenes Wissen. Und nur das spricht aus den Karten.«
    »Aber ich weiß nichts von Karten. Ich kenne nicht einmal ihre Namen.«
    »Die Wahrsagerei hofft den Wind zu fangen, wie er durch deine Seele weht. Deine Follia hat in dieser alten Heidin Türen geöffnet, von denen sie nichts geahnt hat, der Augenblick war also günstig. Zweifellos ist er das auch für dich.«
    »Ich weiß nicht, ob ich die Zukunft kennen möchte.«
    »Niemand kann die Zukunft kennen, nicht so, wie du es meinst, nicht einmal Gott.«
    »Aber gewiss weiß doch Gott per Definition alles …«
    »Nein, nur nach der Definition derjenigen, die sich selbst als Aufseher aufspielen, um uns andere zittern zu lassen. Wenn Gott wüsste, was wir tun werden, meinst du nicht, dass Er dann den Anstand hätte, uns davon abzuhalten?«
    »Gott hat uns den freien Willen geschenkt …«
    »Ob Er uns den freien Willen geschenkt hat oder nicht – und diese Frau hier glaubt das nicht –, wir haben ihn jedenfalls, und das allein ist wichtig. Wie alles, was war und ist, wird die Zukunft aus unzähligen kleinen Fädchen gewebt, und das ist das geniale Geschick unserer Mutter Natur. Mit jedem Atemzug weben wir einen bestimmten Faden und nicht einen anderen, zumeist, ohne zu wissen, welchen und warum, weil wir uns nicht die Mühe machen, es herauszufinden. Wahrsagerei ist nur eine Methode, dieses Wissen zu erlangen und so am Göttlichen teilzuhaben, am Vorgang der Schöpfung, am Tanz des Lebens selbst.«
    »Und dieser Tanz findet gerade in mir statt.«
    Alice lächelte, als wäre sie stolz auf sie.
    »Ja, Liebes. Und nie ist der Tanz schöner.«
    »Bitte sprich weiter. Wie kann ich besser teilhaben?«
    »Wenn deine Seele für sich offen ist und daher auch für dich und alles, was du bist, und für alles, was um dich ist, dann ergibt sich die Frage: Wie kannst du ein wenig von all diesem Wissen ernten, damit du ein, zwei Fädchen mit großer Sorgfalt weben kannst, statt nur durch blindes Tasten? Denn alles Wissen könnte kein Kopf je erfassen. Zu groß ist die Auswahl an Fäden oder Kettfäden oder Knoten. Kein Wunder also, dass wir so oft verwirrt sind.«
    »Ja, ich verstehe. Aber wenn du von blindem Tasten sprichst, werden die Karten nicht vom blinden Zufall bestimmt?«
    »So blind ist er nicht, obwohl du den Finger auf die Antwort legst. Wir laden den Zufall ein, seinen rechtmäßigen Platz im Geschehen einzunehmen. Denn der Zufall umfasst nicht nur alles irgend mögliche Wissen, er ist seiner Natur nach das genaue Gegenteil unseres sterblichen Willens – auf den er gar nicht hört, so gern wir es auch hätten. Also kennt der Zufall keine Verwirrung, denn die ist auch Teil seiner Natur. Zumindest das, was wir Sterblichen als Verwirrung sehen.«
    Alice nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, damit Carla Zeit hatte, diesen Gedanken zu verarbeiten.
    »Da alle Dinge miteinander verbunden sind – denn wie könnten sie das nicht sein? –, stellen diese Karten oder vielmehr die Bilder darauf ein Zusammentreffen dar – zwischen dem Wissen, das die Seele in ihrer Verwirrung besitzt, und der Macht des Zufalls, aus diesem Wissen auszuwählen. Daraus lässt sich eine Voraussage treffen, die nicht völlig blind ist, denn wir lenken ihren Blick, wenn auch nur durch ein dunkles Glas. Aus allem, was wir wissen – und das uns durch seine Vielfalt verwirrt –, lässt sich unsere Aufmerksamkeit auf das lenken, was wir wissen müssen.«
    Diese Unterhaltung stellte alle ihre bisherigen Vorstellungen in Frage und erinnerte Carla an Winterabende, die sie mit Mattias und mehreren Flaschen Wein am Kamin ihrer Küche verbracht hatte. Und an andere mystische Augenblicke davor mit Amparo. Doch ehe sie antworten konnte, kam eine neue Wehe.
    Carla lehnte sich stöhnend auf den Tisch, versuchte den Faden ihrer Überlegungen nicht zu verlieren.

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