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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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du deine Fiedel. Aber am einfachsten ist es immer, damit anzufangen, dass man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrachtet. Wie ist es uns ergangen? Wie ergeht es uns? Wird es uns ergehen?«
    Alice nahm den Gehängten und hielt die Karte richtig herum. Ein Mann in grünen Hosen hing am linken Knöchel von einem grob gezimmerten Galgen, der von zwei Pfosten gestützt wurde. Die Arme waren ihm auf den Rücken gebunden; Goldmünzen fielen ihm aus den Taschen. Sein Gesicht war seltsam ungerührt von seinem Schicksal. Es schien, als würde er beinahe lächeln.
    Alice sprach mit bitterer Stimme.
    »Der Pelikan füttert seine Jungen mit dem eigenen Blut. Der Wurm frisst seinen eigenen Schwanz. Der Kopf des Gehängten schwankt über trüben Wassern, und seine Gedanken sinken hinein, und doch weiß er es nicht, denn er hat allen guten Rat missachtet und den Verstand verloren. Er liebt sein Leben nicht, wird es nie lieben, selbst wenn er es verliert. Er hat nur sich selbst betrogen, und obwohl er dem falschen Weg abschwört, obwohl er für seine Sünden Buße tut, obwohl er mit dem Opfermesser die Fesseln durchschneidet, die ihn binden, wird er ertrinken. Denn er sieht die geheimen Feinde nicht und wird ihre Münzen niemals ausgeben.«
    Alice legte die Karte umgekehrt zurück. Sie nahm den Gaukler auf, der ganz in Rot gekleidet war. Er stand an einem Tisch, auf dem die Werkzeuge eines Taschenspielers lagen: Würfel, ein Messer, eine Erbse und drei Nussschalen, Geld, ein Becher Wein. Er hielt einen dünnen Stock, vielleicht eine Pfeife, um seine Kunden damit anzulocken. Alice erzählte, was ihr in Gedanken vorschwebte.
    »Ein Falke, im Flug von einem Pfeil durchbohrt. Eine Wölfin in der Falle beißt sich ins eigene Bein. Ein Hundebellen. Ein wilder Stier. Falschheit. Fingerfertigkeit. Ehrgeiz. Schwärende Wunden. Scharfsinn erfreut sich am Bösen und gibt den Namen für einen nachtragenden Gott her. Doch selbst unter den Verschwörern herrscht Furcht, denn der Kelch ist vergiftet, und auch die, die ihn vergiftet haben, trinken ihn bis zur Neige.« Alice wedelte mit derKarte, ehe sie sie an ihren Platz zurücklegte. »Dies ist der Feind, den der Gehängte nicht sieht, den bisher niemand sehen kann.«
    »Dann kann eine Karte für einen bestimmten Menschen stehen, für eine wirkliche Person.«
    »Natürlich, meist für mehrere. Die Karten fangen ein, was die Fragende beschäftigt, ein Drama, das vielleicht viele Schauspieler hat. Die Eigenschaften dieser Karte müssen dich nicht beunruhigen, wenn du auch recht hast: Bisher besteht das Schauspiel nur aus Intrigen, Raffgier und Lügen. Doch es ist noch nicht alles verloren, denn jenseits aller Schrecken und Angst steht der Narr.«
    Alice nahm die Narrenkarte und schaute sie beinahe zärtlich an.
    »Hört, hört die Hunde bellen, der Bettler ist in die Stadt gezogen. Sein Magen ist so leer wie sein Teller, und er hat keine Taschen. Sie bestrafen ihn nicht für die Fehler, die er gemacht hat, sondern für die, die er nicht gemacht hat. Denn über seine Brüder und Schwestern hat der Narr nie Macht ausüben wollen, auch nicht über unsere Mutter Natur. Das Meer wurde dem Krokodil anvertraut, die Blütenblätter und Dornen der Rose. Seine Reise verlief von der Dunkelheit ins Licht, und in die Dunkelheit muss er heimkehren. Er ist jeden Pfad gegangen, der es lohnt. Er hat alles gelernt, was wissenswert ist. Und nun beim letzten Pfad weiß er, dass er gar nichts weiß. Der Abgrund tut sich hinter ihm auf, und er sieht ihn nicht und wird fallen. Dieser Abgrund ist tiefer als Menschen ahnen können, aber nicht bodenlos. Der Narr hat mit nichts begonnen und steht jetzt vor dem Nichts. Ist also seine Reise zu Ende? Oder fängt sie gerade erneut an?«
    Alice hielt ihr die Karte hin.
    »Weißt du es? Weiß es die alte Frau? Weiß er es?«
    Carla starrte auf den verirrten, verwirrten Außenseiter, dessen Mitleid alle, nur nicht sich selbst umfasste. Sie wurde von Gefühlen überwältigt, die sie nicht benennen konnte. Sie schluchzte.
    »Amparo.«
    »Ja, Liebes.«
    »Und mein Kind.«
    »Ja, Liebes. Und du und ich auch.«
    Carla ließ ihr Herz sprechen, und Alice nahm ihre Hände in die ihren. Als Carla fürchtete, ihre schreckliche Traurigkeit würde unendlichlang dauern, setzte eine neue Wehe ein, und sie war beinahe dankbar für ihren unbarmherzigen Lauf. Die Wehe war ungeheuer, stellte an gewaltiger Stärke und Dauer alle vorigen in den Schatten. Endlich verging auch dieser Schmerz, und

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