Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Liebes.«
Hinter den Vorhängen im Hof erhob sich erneut Unruhe. Alice schaute zu dem Lärm hinunter, stemmte sich mühsam auf die Beine und ging schwerfällig fort.
Carla ballte die Fäuste, als eine neue Wehe ihre Schultern von der Matratze hob. Sie stöhnte. Sie wischte sich mit dem blauen Tuch den Schweiß aus den Augen. Alice kehrte zurück und hielt ein steifes Blatt Karton in der Hand, etwas größer als Quartformat.
»Wenige hier haben das je gesehen. Mein Sohn glaubt, es sei längst verbrannt, aber diese alte Füchsin vergibt sich, dass sie ihn genarrt hat.«
Alice setzte sich auf die Bettkante und reichte Carla das Blatt. Die hielt unwillkürlich den Atem an. Es war ein Porträt, das Brustbild eines ungeheuer gut aussehenden jungen Manns mit nacktem Oberkörper. Seine Züge waren so fein und gleichzeitig wild, die Linien derWangen, Brauen und des Kinns in so vollkommener Harmonie, dass man sich hätte fragen können, ob es dem Künstler um eine Allegorie auf männliche Schönheit ging. Aber die Arbeit war in ihrer feinen Mischung von Farben, ihrer Leichtigkeit und Sicherheit, ihrem intensiven Ausdruck, ihrer Zartheit und Einfühlsamkeit so vollkommen, dass Carla nicht bezweifelte, dass es sich um ein echtes Abbild handelte. Der Jüngling schaute mit hochmütiger Wildheit aus dem Rahmen, als wüsste er, dass ihm die Welt zu Füßen lag. So die Lippen zu verziehen, das konnte er nur von seiner Mutter gelernt haben.
Carla sagte: »Grymonde.«
»Der hübscheste Junge, den ich je gesehen habe. Und nun ein verdammter und gequälter Mann.«
Carla schaute zu Alice und sah den grenzenlosen Schmerz, den sie im Inneren hegte. Carla hatte viele Fragen, doch sie schienen angesichts von Alices Leid nebensächlich. Die alte Mutter hatte eine Geschichte zu erzählen, die sie vielleicht noch nie erzählt hatte. Carla nahm ihre Hand und wartete.
»Du hast gesehen, was aus meinem Sohn geworden ist. Zehn Jahre hat es gedauert, einen Tag auf den anderen gehäuft, seit dieses Bild gemalt wurde. Er lebt unter einem Fluch, der ihn langsam verzehrt. Das Äußere, das wir sehen, ist nur die Blüte der Krankheit im Inneren des Baums, im wachsenden Holz, im steigenden Saft. Und ich habe ihn so verflucht. Ich habe ihn wegen einer Frau und wegen des Kindes verflucht, das die beiden gemacht hatten, und weil ich eifersüchtig war und weil das Böse sich in meinem Herzen verborgen hatte und wartete, bis es mich für sich beanspruchen konnte.«
»Das glaube ich nicht, so wahr dieses Kind in mir um sein Leben kämpft. Grymonde hat eine unbekannte Krankheit, ein schleichendes Fieber; oder der Grund ist irgendein Gift, das er zu sich genommen hat …«
»Diese Mutter dankt dir, und vielleicht hast du recht, aber alle Dinge sind miteinander verbunden, und ich – wiederum nehme ich dieses Wort ›ich‹ in den Mund – habe meinen Sohn verflucht, und das fügt jeder Mutterseele eine Wunde zu. In dem Augenblick, als mir der Fluch über die Lippen kam, hat mich ein glühender Pfeil durchbohrt, und unsere Mutter Erde schrie aus den Steinen unter meinen Füßen, denn manche Dinge können nicht mehr rückgängiggemacht werden, wenn man sie einmal gesagt hat. Er nahm diese Hure, denn das war sie und ist sie noch, und er nahm sein Kind, eine Tochter, die jeden Zoll so hübsch war wie er, und er ließ diese alte Närrin allein mit ihrer Reue zurück.«
Tränen rollten über die violett geäderten Wangen. Carla schluckte an ihrem eigenen großen Leid. Ihr Schoß krampfte sich zusammen, und sie drückte Alices Hand, während ihr der Schmerz in Spiralen durch den Körper stieg. Sie gab keinen Laut von sich.
»Das war falsch von mir«, sagte Alice. »Du bist in keinem Zustand, um meine Narrheiten anzuhören.«
Alice langte nach dem Porträt. Carla schüttelte den Kopf und hielt es fest.
»Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast, Alice. Ich weiß, wie es ist, einen Sohn zu verraten. Die Karten haben es deutlich gesagt. Gewogen und zu leicht befunden. So war ich als Mutter. Ich fühle mich töricht, dass ich dir so etwas sage, aber ist das nicht unsere Bürde? Und ist die nicht am schwersten zu tragen?«
Alice wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Einen Augenblick lang sah sie aus wie ein Kind. Sie nickte, und Carla lächelte ihr zu. Alice lächelte ebenfalls und schüttelte den Kopf.
»Er war verliebt. Und diese Frau hier fürchtete, was ihn das kosten würde. Er hätte jedes Mädchen haben können, und viele wären allzu
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