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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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willig gewesen, nicht nur auf den Höfen. Er war kein Kostverächter. Nicht ihn zu verlieren, sondern ihn an sie zu verlieren, war so schwer. Sie war durch und durch schlecht. Des Teufels schwärzeste Hure. Aber Liebe hat nichts mit Verstand zu tun, das wissen wir auch ohne Karten. Sie hat ihm schon bald das Herz aus dem Leib gerissen, wie ich es vorausgesehen hatte. Sie war in ihrer Art eine Schönheit. Er machte sich zum Narren, wie Männer das in solchen Situationen tun, aber schließlich fand er nach Hause zurück und leckte sich die Wunden und machte sich zum König von Cockaigne, über die Leichen vieler erbitterter Feinde hinweg. Seine Feinde haben ihm den Namen ›Infant‹ gegeben.«
    »Das habe ich gehört. Warum?«
    »Zunächst war es als Beleidigung gedacht. Er war ja kaum neunzehn. Die Alten dachten, er wüsste nicht, was er tat, dass er für sie hätte arbeiten sollen. Ehe sie ihren Irrtum begriffen hatten, warensie tot. Du musst wissen, dass mein Sohn sein Leben kaum mehr schätzt als eine Blüte ihre Blätter, und seine Feinde schätzten ihr Leben weitaus höher ein.«
    Stolz, aber auch Schmerz und Bedauern schwangen in Alices Stimme mit.
    Carla hätte beinahe gesagt: Ich kenne einen solchen Mann. Ich habe ihn geheiratet. Ich liebe ihn.
    Aber sie wollte Alice in ihren Träumereien, in ihrem Gespräch über die Bürde einer Mutter nicht unterbrechen.
    »Er hat nie um eine andere gefreit, hat alles Gefühl für die Liebe verloren – weigert sich, darüber zu sprechen. Aber diese alte Frau will dies nicht der Hure zuschreiben. Sein Herz ist geheilt. Nein, er hat das Verlangen danach verloren. Das war auch der Fluch der Mutter. Und wer weiß was sonst noch? Denn er ist zum finstersten aller Männer geworden.«
    »Du sagst, Grymonde hat eine Tochter?«
    »Er hat sie nie anerkannt, wofür man ihm keine Vorwürfe machen kann. Er hat seinen eigenen Vater nie gekannt, wenn das auch nicht tragisch war. Diese Großmutter hat das kleine Mädchen nicht gesehen, seit es geboren ist, hier in diesem Zimmer.«
    Wenn das alles ungefähr zehn Jahre her war, dann war Grymonde viel jünger, als Carla gedacht hatte, erst etwa dreißig. Sie musste unwillkürlich an Estelle denken. Sie erinnerte sich an das wilde, rußverschmierte Gesicht und konnte keine Ähnlichkeit feststellen, obwohl das, wie sie nur zu gut wusste, nichts zu sagen hatte. Was Carla stutzig gemacht hatte, war der Blick des Mädchens, dieser glühende Pfeil der Eifersucht, den sie auf Carla abgeschossen hatte. Wer auch die Enkelin sein mochte, die Wunde, die ihr Verlust in Alice geschlagen hatte, war nie geheilt.
    »Mir hat man meinen Sohn am Tag seiner Geburt weggenommen«, sagte Carla. »Er wuchs als uneheliches Kind, als Waise auf, in einer Welt, die diesen Höfen ein wenig ähnelt. Er war zwölf, als ich ihn zum ersten Mal wiedersah. Und nun ist er wieder verloren. Dieses Kind hier, das schwöre ich, werde ich niemals aus den Armen geben.«
    Eine Wehe von solcher Wucht stieg auf, dass Carla meinte, in Stücke gerissen zu werden. Auch die ging vorbei, und Carla fühltesich von allen Gefühlen gereinigt. Sie bat um kalten Tee, und Alice reichte ihn ihr. Carla trank. Die Zeichnung lag auf dem Bett. Carla nahm sie zur Hand, schaute sie noch einmal genau an und bewunderte die feine Arbeit. Die Schwarztöne waren mit Graphitstaub und einem Metallstift gezeichnet. Die Rottöne machten das Abbild so lebendig. Die Lebensfunken in der Iris waren mit braunem Stift gesetzt. Es war ein Meisterwerk. Sie zähmte ihre Neugier. Alice lächelte.
    »Es gibt zu dem Bild eine schöne Geschichte, wenn du sie hören willst.«
    »Bitte, liebend gern.«
    »Mein Junge sitzt also eines Tages vor einer Kneipe in Les Halles beim Frühstück, als ein sehr nobler Herr herbeikommt und ihn fragt, ob er etwas dagegen hätte, wenn er sein Porträt zeichnete. Nun trifft man ja in Les Halles alle möglichen Leute, aber selbst da war eine solche Anfrage noch nie dagewesen, und mein Sohn hielt den Mann für einen Sodomiten – es wäre nicht der erste Herr dieser Art gewesen, der ihm Avancen machte – und sagte ihm, er sollte sich schnellstens verziehen, solange er noch laufen konnte. Aber der Herr war beharrlich, bot ihm eine ansehnliche Belohnung für eine Stunde seiner Zeit. Wofür? Nun, der Herr sah in meinem Sohn eine unwiderstehliche Herausforderung für die Ausübung seiner Kunst. Daraufhin stellte er sich als der berühmteste Maler Frankreichs vor.«
    »Ich wusste es, Monsieur

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