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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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einer Bank. Mehr als ein halbes Dutzend Mal nahm sie Zuflucht zum Nachttopf, konnte aber meist kein Wasser lassen. Als sie zu erschöpft war, legte sie sich hin und wälzte sich, ohne eine bequeme Lage zu finden. Sie stöhnte und war sich bewusst, dass es wie das Muhen einer Kuh klang. Manchmal weckte eine Wehe sie auf, und ihre Gedanken hingen noch den Überresten eines Traums nach, aber sie konnte höchstens ein, zwei Minuten gedöst haben. Märchen. Träume.
    Obwohl ihr Alice versicherte, dass unflätige Sprache in ihrem Haus willkommen war, beklagte sich Carla nicht lautstark. Das war der letzte Faden ihrer Würde, die sie ansonsten ohne Zögern aufgegeben hatte. Die Vorhänge waren gegen die Sonne zugezogen, aber es gab kein Entkommen vor der Hitze. Der Rauch von Thyrusholz hing in der Luft, nur dort sichtbar, wo er sich in blauen Fäden durch Lichtstrahlen kräuselte. Hugon, der hagere Junge, den sie sohübsch gefunden hatte, machte für Alice alle möglichen Botengänge, holte Wasser, Leintücher und Tee. Carla hörte, dass er sich nach ihrem Befinden erkundigte, aber Alice erlaubte ihm nie, das Zimmer zu betreten.
    Carla hatte inzwischen ein weißes Nachthemd angezogen, das jetzt völlig durchgeschwitzt war, genau wie ihre Haare. Sie überlegte, dass sie das Feuer war, ihr Körper der belagerte Turm aus dem Kartenspiel, der schmolz und zersplitterte. Der lange Kampf zermürbte sie völlig, verwirrte und erschöpfte sie, als hätten sie und das Leben einander bei der Kehle. Sie erinnerte sich daran, wie Bora darüber schwärmte, welche Herrlichkeit, welches Entzücken, welches Delirium einem der Kampf mit dem Schmerz, mit der Furcht und dem Tod bringen konnte. Fühlte sich Mattias so in der Schlacht? Sie bezweifelte es, aber wenn es stimmte und wenn das die Herrlichkeit war, dann begriff sie ihren Reiz nicht. Und doch hatte diese Erfahrung Alice in ihr Leben gebracht. Das war herrlich genug.
    Carla lag auf Alices Anweisung auf dem Rücken. Die alte Frau untersuchte sie und erklärte, dass sie nun schon weit fortgeschritten wäre. Jetzt breitete sie ein feuchtes Leinentuch über Carlas Bauch. Es war mit einem Sud aus gekochten Spieräpfeln, Eiweiß, gestoßenem Hirschhorn und Weihrauch getränkt, der die Schwangerschaftsstreifen lindern sollte. Jedenfalls fühlte es sich gut an.
    »Alice, was geschieht mit uns, wenn das hier vorüber ist?«
    »Das können wir selbst mit Hilfe der Karten nicht wissen.«
    »Ich bin heute nicht ich selbst, und doch glaube ich, dass wir in allen Lebenslagen etwas finden, das wir an anderen bewundern können. In meinem Fall sind das mehr Dinge, als ich benennen kann.«
    Alice lachte und hustete.
    Sie bewegte das Leinentuch in sanften Kreisen.
    »Hölle und Teufel, eine wie dich hat diese Frau noch nie getroffen und muss auch zugeben, dass es eine großartige Lektion über die Manieren der feinen Leute für sie war, die sie sehr beschämt hat.«
    »Was immer du mit feinen Leuten meinst, so bin ich heute alles andere als das, und meine Manieren sind auch nur meine.«
    »Diese Frau wollte nur das Kompliment erwidern. Hier in den Höfen sind wir nicht gewohnt, welche auszuteilen, also vergib, wenn sie es nicht recht getroffen hat.«
    »Nein, ich sollte mich entschuldigen, denn du hast mir nichts als Liebenswürdigkeit gezeigt.«
    »Nun, lass uns dieses Feld nicht schon wieder beackern. Wenn du fragst, ob wir zusammenbleiben – nachdem dein Kind geboren ist und ihr beide so weit seid, dass ihr eurer Wege gehen könnt –, natürlich werden wir das. Unsere Schicksale sind miteinander verflochten. Wir trinken gemeinsam aus dem heiligsten aller Becher. Doch diese Dinge sollte man nicht zu sehr fassen wollen, sonst erstickt man sie. Für den Augenblick ist das mehr als genug. Hölle und Teufel, dieses alte Mädchen hat den Hof seit über zwölf Sommern nicht mehr verlassen und kaum je dieses Haus. Und wenn sie es das nächste Mal verlässt, dann geht sie viel weiter als nur zum Fischstand oder, wenn man es recht bedenkt, als bis zum Friedhof.«
    »Zumindest weiß ich dann, wo ich dich finde.«
    Alice legte Carla die Hand auf die Brust. »Da drin findest du mich. Immer.«
    Carla legte ihre Hand auf Alices. Sie schaute ihr in die wintergrauen Augen. Die Liebe, die dort leuchtete, war anders als alles, was Carla jemals gekannt hatte. Es war eine zutiefst menschliche Liebe. Carla begann zu weinen. Sie schluckte ihre Tränen herunter.
    »Immer«, sagte sie. »Immer.«
    »Lass die Tränen fallen,

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