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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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bloß nicht zu widersprechen. »Dann ist vielleicht auch der Gewitterschauer vorbei.«
    Estelle schlich zur Tür. Die beiden Sergents blickten zu ihr hinunter.
    »Wo willst du denn hin, Fräulein?«, fragte Typhaine.
    »Ich möchte in den Regen hinausgehen. Mir ist heiß.«
    »Wie heiß wird dein Arsch erst sein, wenn ich ihn dir versohlt habe. Mach, dass du in die Küche zurückkommst.«
    »Der brave Sergent hier passt auf, dass niemand fortgeht«, sagte Christian.
    Er nickte dem Mann mit dem einzigen braunen Zahn zu. Christian lächelte Estelle an, als hätte er nun eine Gelegenheit, grausam zu ihr anstatt zu Typhaine zu sein. Er zog eine Silbermünze aus seiner Börse und hielt sie ihr zwischen Zeigefinger und Daumen hin.
    »Weißt du, warum du die perfekte kleine Magdalena warst?«
    Estelle antwortete nicht. Sie wich vor der ekligen grünen Kröte zurück.
    »Weil du rotes Haar hast«, sagte Christian. »Judas hatte auch rotes Haar.«
    Er schnipste die Münze. Sie traf Estelle an der Brust und fiel auf den Boden.
    Sie schluchzte und rannte in die Küche. Sie kletterte auf die Bank unter dem offenen Fenster und streckte den Kopf heraus. Der Regen prasselte ihr ins Gesicht. Sie schaute auf die Gasse hinunter und sah, was sie schon wusste: Sie konnte nicht hinunterklettern, und zum Springen war es viel zu tief. Sie hatte Grymonde verraten. Sie war ein Judas. Es gab nichts Schlimmeres. Tränen vermischten sich mit den Regentropfen. Sollte sie trotzdem springen?
    Der Sergent mit dem einen Zahn langte an ihr vorbei und zog das Fenster zu.
    »Keine Sorge, kleine Magdalena. Das geht uns alles nichts an. Bei meinem Wort, kann ich da Zwiebelsuppe riechen?«
    Einzahn setzte sich auf die Bank, und sie schaute ihm zu, wie er die kalte Suppe kostete und vergnügt schmatzte. Er füllte zwei Schüsseln. Aber Estelle wollte nichts essen. Sie wollte Grymonde warnen, dass Petit Christian und die Soldaten Christi kamen, um ihn zu holen.
    » Sergent! Schnell!«
    Petit Christians Stimme war nur noch ein ängstliches Zischen. Einzahn nahm noch einen Riesenschluck Suppe aus seiner Schüssel und ging zur Tür. Estelle folgte ihm, um alles zu beobachten. ImSchlafzimmer hatte Baro einen Knüppel gegriffen und drückte sich flach neben der Haustür an die Wand.
    »Bewaffne dich«, sagte Christian. »Es ist jemand an der Tür.«
    Einzahn nahm den Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil ein. Er zog sich schussbereit in die Küche zurück. Er schaute zu Estelle hinunter und drückte einen Finger vor den Mund. Die Tür bebte unter einem schweren Schlag. Christian trat einen Schritt zurück und nickte Typhaine zu.
    »Wer ist da?«, rief Typhaine.
    »Ich bin’s, Papin. Lass mich rein. Ich bin nass wie ein Frosch.«
    »Papin ist einer von Grymondes Leuten«, flüsterte Typhaine.
    Christian biss sich auf die Lippen und zögerte.
    Estelles Herz raste. Papin konnte Grymonde warnen. Aber würde er sie durch die Tür hören? Vielleicht, wenn sie schrie, aber hier war Schreien nichts Ungewöhnliches.
    »Bitte ihn herein und lächle«, befahl Christian. »Du weißt, was auf dem Spiel steht.«
    Christian deutete auf Baro, der drohend den Knüppel hob.
    Als Typhaine lächelte und die Haustür öffnete, schlängelte sich Estelle an Einzahn vorbei. Papin kam triefnass hereingestolpert. Estelle schrie, so laut sie konnte.
    »Lauf, Papin! Die wollen Grymonde töten!«
    Papin schaute sie an. Baros Knüppel traf ihn im Nacken. Estelle sah ihn nicht fallen. Typhaine hatte sie mit dem Handrücken so heftig ins Gesicht geschlagen, dass sie einen Augenblick lang gar nichts sehen konnte. Sie war auf allen vieren zusammengesackt und starrte auf Einzahns Schuhe. Sie hörte hinter sich Stöhnen und Schreie, aber das war ihr alles gleichgültig.
    Sie hatte Grymonde verraten.
    Sie war ein Judas.
    Sie würde nie wieder mit dem Drachen fliegen.



KAPITEL 19

D AS G EBURTSZIMMER
    Das Geburtszimmer schien in einem mythischen Reich zu liegen, in dem die Zeit nicht stillstand, sondern sich vielmehr endlos wiederholte. Eine Wehe rollte durch sie hindurch, und sie ritt auf dieser Schmerzwelle; dann kam die nächste. Die Eintönigkeit machte ihr beinahe so viel zu schaffen wie die Schmerzen. Im Zimmer stand ein Bett, das mit einem Stück Segeltuch bedeckt war, das Flecken hatte, aber nicht ekelhaft war und über das ein Laken gebreitet war. Der Boden war mit trockenem Schilf bestreut.
    Sie schritt auf und ab, sie ging in die Hocke, sie beugte sich über die Rückenlehne

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